Russlands Angriffskrieg in der Ukraine wirkt sich auf vielen Ebenen verheerend aus. In allererster Linie ist er natürlich eine humanitäre Katastrophe für die Menschen dort; sie müssen jeden Tag auf's Neue um Leib und Leben fürchten oder aus ihrer Heimat in sichere Ziele flüchten. Aber auch die global vernetzte Wirtschaft beeinflusst der Einmarsch nachhaltig negativ. Und zwar auch deshalb, weil er von der Corona-Pandemie verursachte Probleme verstärkt. Besonders in der Autoindustrie.
Ukraine-Krieg verschlimmert Halbleiter-Mangel
Schon lange bevor Russlands Offensive im Nachbarland begann, knirschte es gewaltig in den weltweiten Lieferketten. Besonders offensichtlich wurde die Verwundbarkeit des Systems beim Halbleitermangel, der in allen Teilen der Welt die Bänder in der Autoindustrie teilweise hat stillstehen lassen. Experten rechnen damit, dass diese Krise erst Ende 2023, Anfang 2024 überwunden ist – und diese Prognosen stammen aus der Zeit vor dem Krieg in der Ukraine. Was die Situation inzwischen verschlimmert hat: Die Ukraine ist einer der weltweit größten Lieferanten von Neon. Das Edelgas wird für Laser benötigt, mit denen Halbleiter-Chips gefertigt werden.

Um trotzdem Autos ausliefern zu können, wurden die Hersteller kreativ. Peugeot beispielsweise rüstete den neuen 308 zeitweise mit klassischen analogen Instrumenten statt digitalen Fahrer-Informations-Displays aus. Andere Marken nahmen dagegen Ausstattungs-Optionen aus dem Programm, die viel Rechenpower und damit zahlreiche Chips benötigen. Diesen Weg gehen die Konzerne sogar in der Luxusklasse – Mercedes beispielsweise beim EQS. Die Frage ist: Akzeptiert die Kundschaft ein Auto mit sechsstelligem Preisschild, das imagemäßig von seinem Hightech-Anspruch lebt, von dieser aber nur mit einen Bruchteil präsentiert werden kann? Schwer vorstellbar.
Einstiegsmodelle vorerst gestrichen
Die nächste Strategie: Margenschwache Basismodelle werden aus dem Angebot gestrichen. Mit den wenigen Teilen, die zur Verfügung stehen, wollen viele Marken besser ausgestattete Autos bauen, die ihnen eine höhere Rendite garantieren. Beispiel Volkswagen: Im Sommer 2021 wurde die Basismotorisierung des Golf, ein 90 PS starker Einliter-Turbobenziner, aus dem Portfolio entfernt. Dasselbe geschah beim Elektro-Pendant ID.3 mit der Pure-Version samt kleiner Batterie und gedrosseltem Motor. Beide Modellvarianten sind bis heute – fast ein Dreivierteljahr später – nicht in den Online-Konfigurator zurückgekehrt.
Andere Hersteller versuchen mit alternativen Mitteln, die Rendite pro verkauftem Auto hochzuhalten. Etwa, indem heftiger als zuvor an der Preisschraube gedreht wird. BMW beispielsweise hatte erst am 26. Januar über die reguläre Preisrunde informiert, mit der die Autos vom 1. April an etwas teurer werden sollten. Doch die damals gedruckten Kataloge und Preislisten wanderten direkt ins Altpapier: Die Münchner sahen sich Ende März gezwungen, die Preise für denselben Stichtag außerplanmäßig anzuziehen – und das teils massiv. Mit dem Ergebnis, dass sich der X5 xDrive45e dermaßen verteuerte, dass er aus der staatlichen Plug-in-Hybrid-Förderung fiel und damit effektiv plötzlich 8.000 statt 2.000 Euro mehr kostete als zuvor.
Halbleiter-Chips sind längst nicht mehr die einzigen Zulieferteile, die an den Fertigungsbändern der internationalen Autofabriken fehlen. Ein Rohstoff nach dem anderen gesellt sich hinzu zur immer längeren Mangelwirtschaftsliste, auf denen Kabelbäume inzwischen ganz weit oben stehen. Bis zum Ausbruch des Krieges war die Ukraine ein europäisches Zentrum für deren Fertigung; allein Zulieferer Leoni betreibt dort zwei Werke. Nachdem die Produktion zeitweise komplett zum Erliegen kam, produzieren die Fabriken seit Ende März wieder – allerdings im klar verminderten Umfang. Zusätzlich hat Leoni einen Teil der Produktion in andere Länder verlegt.
Lieferzeiten auf Rekordniveau
Das bietet Grund zu vorsichtigem Optimismus. Aber bis sich die Produktion und die Lieferketten stabilisiert haben, dauert es noch – wie lange, kann derzeit niemand seriös sagen. Da der Auftragsstau in den Automobilwerken sowieso schon enorme Ausmaße erreicht hat, verlängern sich die Lieferzeiten auf Rekordniveau. Wer heute beispielsweise einen Skoda Octavia RS iV Combi mit Plug-in-Hybridantrieb bestellt, erhält ihn in anderthalb
Jahren. Vermutlich.

Aufgrund der langen Lieferfristen verhängen immer mehr Autohersteller sogar generelle Bestellstopps für einzelne Baureihen. Bei Renault lässt sich seit dem 25. März kein elektrifiziertes Modell mehr ordern; selbst der neue Mégane E-Tech Electric ist von der Maßnahme betroffen. Auch Ford habe einen Bestellstopp erlassen, hieß es kürzlich in einem Medienbericht – im Unterschied zu Renault betreffe das aber eher Brot-und-Butter-Modelle. Elektrifizierte Prestigeautos wie der Mustang Mach-E, der aber nach BMW-Vorbild deutlich teurer geworden ist, oder der nur als Plug-in-Hybrid verkaufte Explorer seien über Fords Webseite weiterhin erhältlich. Tatsächlich gibt ein Ford-Händler auf Nachfrage zu, dass der Hersteller vor einigen Tagen "Bestellfenster zugemacht" habe.
Was genau bedeutet "Bestellstopp"?
Dabei stellt sich eine komplizierte Definitionsfrage rund um den Begriff "Bestellstopp". Ford zufolge können die Händler derzeit sehr wohl Neuwagen aus mehreren Baureihen bestellen. Um das Angebot zumindest teilweise aufrechtzuerhalten, haben die Kölner für ihre deutschen Vertriebspartner einen Pool aus vorkonfigurierten Neuwagen eingerichtet, aus dem sie sich bedienen können. Sie können sich zudem Bestellslots für frei konfigurierte Autos sichern. "Ein grüner Fiesta mit rotem Dach und gelben Sitzen ist derzeit aber nicht möglich", sagt ein Ford-Sprecher überspitzt. Die neuen Gegebenheiten seien jedoch bereits in den Online-Konfigurator eingeflossen.
Ford versucht mit dieser Strategie mehrere Dinge zu erreichen. Einerseits soll die Produktion so gut es geht ausgelastet und die Kundschaft mit den gewünschten Autos versorgt werden. Andererseits soll es Hamsterkäufe seitens der Händler verhindern. "Manche Händler haben extreme Volumina bestellt, um Vorräte aufzubauen, die sie dann abverkaufen können", sagt einer von ihnen. Das Phänomen kennen Verbraucher vom Klopapier-, Pasta- oder Speiseöl-Regal. Weil sich einige Leute selbst absichern wollen und die Dinge im Keller horten, schauen andere in die Röhre. Ein Verteilungskampf – im Supermarkt und in den Showrooms der Autohändler.
Rationiertes Angebot
Es gebe aktuell Verteilungsquoten vonseiten des Herstellers, das Angebot werde rationiert, sagt ein Ford-Händler. "Wir steuern das und greifen da ein", bestätigt die Kölner Zentrale. Wie lange die Situation andauere, könne derzeit niemand seriös einschätzen, sagt ein Sprecher. Und im Handel geben sie zu: "Wir nennen den Kunden aktuell Lieferzeiten von sechs bis neun Monaten." Ob das wirklich zu halten sei, wisse man zurzeit jedoch nicht. Ford vergebe derzeit keine verlässlichen Termine.