Die wohl größte Zäsur in der fast 58-jährigen Geschichte des VW-Werks in Emden ist nun vollzogen: Seit Dezember 1964 rollten in Ostfriesland mehr als zwölf Millionen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren von den Bändern. Anfangs der Käfer für den nordamerikanischen Markt, später auch der Typ 2 Bus sowie Golf I, Typ 181 Kurier, Santana, der Typ 4 Bus und der Taro. Sogar der Audi 80 kam zeitweilig aus Richtung Emden auf unsere Straßen. In den letzten 45 Jahren war der Standort das Leitwerk für den Passat , der dort in allen Karosserievarianten und auch in Gestalt des schnittiger gestylten Arteon produziert wurde.
Doch die Nachfrage nach konventionell angetriebenen Mittelklasse-Modellen sinkt kontinuierlich – vor allem, wenn sie über ein Stufenheck verfügen. Die Konsequenzen: Die Passat-Produktion wandert erst in die Slowakei aus, um mit geringeren Lohnkosten die Rendite abzusichern. Die nächste, für 2023 angekündigte Passat-Generation mit dem Werks-Code B9 erhält zudem keine Stufenheck-Version mehr. Und sie wird federführend von Skoda entwickelt; die Konzernmarke betreibt das Werk in der slowakischen Hauptstadt.
Erst ID.4, dann auch ID.6 und ID.7
Das Werk Emden brauchte also eine neue Perspektive. Diese bietet die Elektromobilität: Neben Zwickau ist Emden nun das zweite deutsche Werk, in dem der VW ID.4 gebaut wird – am vergangenen Freitag (24. Mai 2022) rollte das erste Exemplar vom Emder Band. Wobei der Elektro-SUV ein echter Weltbürger ist: Er wird außerdem an den chinesischen Standorten Anting und Foshan sowie von Herbst an im amerikanischen Chattanooga gebaut. Auch dort folgt er übrigens auf den Passat, der im Bundesstaat Tennessee exklusiv für den US-Markt montiert wurde.
Doch die Mittelklasse verabschiedet sich nur temporär aus Emden. Bereits im nächsten Jahr kehrt der Passat quasi zurück nach Ostfriesland – wenn auch mit anderem Namen und anderem Antrieb als bisher. Emden erhielt konzernintern den Zuschlag, die Serienversion des bisher unter dem Projektnamen Aero B bekannten Elektro-Modells zu produzieren. Es beginnt 2023 mit der wohl ID.6 genannten Limousinen-Version, bevor ein Jahr später dessen Kombi-Ableger (wahrscheinlich als ID.7 und womöglich mit dem Beinamen Tourer) folgen wird – als elektrischer Passat Variant sozusagen. Somit basieren alle in Emden gefertigten Elektroautos auf Volkswagens Modularem E-Antriebs-Baukasten MEB.
Erste Probleme bereits 2018
Dass Volkswagen die Passat-Produktion aus Emden abzieht, hatte sich seit 2018 angedeutet. Obwohl von der Corona-Pandemie oder dem daraus resultierenden Halbleitermangel nicht einmal am Horizont etwas zu sehen war, pausierte die Produktion mehrfach. Die mangelnde Nachfrage bei der Kundschaft und Probleme beim Teilenachschub, beispielsweise bei Dieselmotoren, führte seinerzeit zu Kurzarbeit. Zwar dementierte das VW-Management damals noch entsprechende Medienberichte, aber der Negativtrend hielt an: Mit der 2020er-Jahresproduktion von gut 163.000 Autos war das Werk bei weitem nicht ausgelastet.

Es dauerte nicht lange, bis VW für Emden den Schwenk hin zur E-Mobilität verkündete. Eine gute Nachricht für die etwa 8.000 Beschäftigten und Uwe Schwartz: "Zu erleben, wie jetzt der ID.4 in Emden vom Band rollt, erfüllt uns mit Stolz", sagt der seit 2019 verantwortliche Werkleiter. "Stolz darauf, die E-Strategie von Volkswagen aus Emden heraus zu beschleunigen."
Tagesauslastung von 800 Autos
Zwei Jahre hat die Umrüstung des Werks gedauert. Im Zuge des Werkumbaus sind sechs neue Fertigungshallen und Logistikgebäude sowie fünf neue Förderbrücken mit insgesamt rund 125.000 Quadratmetern entstanden. Damit umfasst das Werk nun eine Fläche von fast 4,5 Millionen Quadratmetern. Sobald es gegen Jahresende komplett hochgefahren ist und die Nachfrage sowie Teileverfügbarkeit mitspielen, sollen dort pro Tag etwa 800 VW ID.4-Exemplare aus den Hallen rollen.