Es ist ein Verbrechen, das wohl alle von uns fürchten. Nicht, weil dabei ein Auto gestohlen wurde. Sondern, weil ein Kind aus der Obhut seiner Mutter gerissen und ein unschuldiger Mensch zu Schaden gekommen ist, da die Täter sehr rücksichtslos vorgegangen sind. Umso stärker der Wunsch, sich bei der Strafverfolgung nicht nur auf die Behörden, sondern alle Beteiligten verlassen zu können. Doch das scheint hier nicht passiert zu sein – und ausgerechnet der deutsche Autohersteller Volkswagen spielte eine unrühmliche Rolle bei der Aufklärung des Falles.
Den Tathergang schildert das Lake County Sheriff's Office in einem Facebook-Post. Es begann als Autodiebstahl: In der Stadt Libertyville, gelegen nördlich der Metropole Chicago im US-Bundesstaat Illinois, parkte eine Mutter ihren VW Atlas (siehe Video und Fotoshow) in der Einfahrt. Als die schwangere Frau ihr erstes Kind ins Haus gebracht hatte und das zweite – einen zweijährigen Jungen – aus dem Auto holen wollte, fuhren plötzlich Autodiebe vor. Einer von ihnen schlug auf die 34-Jährige ein, stieß sie zu Boden, setzte sich hinter das Steuer und fuhr mit dem geklauten Auto davon. Dabei fuhr er die Frau an, die daraufhin schwere Verletzungen an ihren Extremitäten (Knochenbrüche) erlitt, aber noch den Notruf wählen konnte, wobei die Polizeibeamten des Sheriffsbüros sofort die Ermittlungen aufnahmen.
Auto geklaut, Kind im Fond
Das besonders Rücksichtslose an der Tat: Als der Autodieb flüchtete, saß immer noch das Kind im Fond. Er besann sich erst in der etwa zehn Meilen entfernten Stadt Waukegan eines Besseren und ließ das Kind auf einem Geschäftsparkplatz aussteigen, bevor er mit dem gestohlenen Fahrzeug flüchtete. Das beobachtete ein Zeuge, der den Notruf wählte und den Zweijährigen in Sicherheit brachte. Wenigstens dieser Aspekt der Geschichte ging gut aus, auch wenn man keinem Kind wünscht, eine solche Situation erleben zu müssen.
Volkswagen of America bekleckerte sich während des Tatablaufs nicht mit Ruhm. "Bei der Suche nach dem gestohlenen Fahrzeug und dem gefährdeten Kind riefen die Ermittler des Sheriffs sofort Volkswagen Car-Net (den Online-Dienst des Autoherstellers; d. Red.) an, um das Fahrzeug zu verfolgen", heißt es in der Stellungnahme des Sheriffsbüros. Den Aussagen zufolge kam es zu einer 30-minütigen Verzögerung, da der Hotline-Mitarbeiter des Online-Dienstes das Fahrzeug aus dem Modelljahr 2021 erst nach Eingang der Zahlung für die Reaktivierung des im Auto installierten Peilsenders verfolgen wollte. Das Probeabo des Dienstes war zuvor abgelaufen.
Ortung erst nach Zahlung
Einem Bericht der "Chicago Sun Times" zufolge half alles Flehen seitens der Polizeibeamten nichts; der Hotline-Mitarbeiter gab nicht nach und weigerte sich, die Ortungsfunktion freizuschalten. Erst als die Mitarbeiter des Sheriffsbüros eine Gebühr von 150 Dollar (aktuell umgerechnet knapp 141 Euro) zahlten, wurde das Auto geortet. Zu diesem Zeitpunkt waren der Junge bereits unverletzt auf dem Parkplatz in Waukegan ausgestiegen und der VW Atlas an einem anderen Ort gefunden worden. "Die Information war für uns zu diesem Zeitpunkt also wertlos", sagt ein Sprecher des Sheriffsbüros.
Mit Verzögerung hat Volkswagens US-Dependance auf den Vorfall regiert. Ein Sprecher sagte einige Tage nach dem Autodiebstahl mit Kindesentführung, dass es sich beim Verhalten der Mitarbeiter der Notfall-Hotline, die von einer externen Firma betrieben werde, um einen "schwerwiegenden Verstoß gegen das eigene Protokoll" gehandelt habe. "Wir wollen nicht nur umfassend untersuchen, was schief gelaufen ist, und Maßnahmen ergreifen, um das Versagen zu beheben, sondern wir wollen es auch für die Zukunft richtig machen", ergänzt Rachael Zaluzec, die bei Volkswagen USA für Marketing und Kundenkontakt zuständig ist. "Die Familie wurde glücklicherweise wiedervereint, aber das Verbrechen und das Versagen des Prozesses sind für mich herzzerreißend."
Kostenfreie Notfalldienste für Car-Net
Als weitere Reaktion auf das eigene Versagen bietet VW in den USA bald kostenfreie Sicherheitsfunktionen für sein Konnektivitätssystem an. Zum 1. Juni 2023 schaltet Volkswagen of America die Car-Net-Notfalldienste für die meisten Fahrzeuge der Modelljahre 2020 bis 2023 kostenlos für fünf Jahre frei. Dabei geht es bei Benzinermodellen um die Ortung gestohlener Fahrzeuge und Diebstahlwarnungen sowie automatische Unfallbenachrichtigungen und Notfallhilfe; beim Elektro-SUV ID.4 umfasst die Neuerung nur die letzten beiden Funktionen.
Nach den Tätern wird zum jetzigen Zeitpunkt weiterhin gefahndet. Ein weißer BMW 5er, der zuvor ebenfalls gestohlen wurde und dem Komplizen des Autodiebes als Fluchtwagen diente, wurde inzwischen in Waukegan gefunden.