Reifenabrieb schadet Gesundheit mehr als Abgase

Untersuchung von Emissions Analytics
Reifenabrieb schadet Gesundheit mehr als Abgase

Emissions Analytics stellt modernen Dieselfahrzeugen in Bezug auf deren Partikel-Emissionen ein hervorragendes Zeugnis aus. Seitdem es Partikelfilter gebe, stoßen Selbstzünder sehr wenig Feinstaub aus, sagen die britischen Experten für Abgasmessungen, mit denen auch auto motor und sport bei seinen Tests im Realverkehr zusammenarbeitet. „Die Filter sind inzwischen so gut, dass ein Diesel-Pkw – wenn die Umgebungsluft bereits verschmutzt ist – mehr Partikel aus der Luft entfernt, als er ausstößt“, heißt es in einem Statement.

Partikel-Emissionen viel höher als befürchtet

Es gibt jedoch zwei große Aber. Erstens: Durch die inzwischen engmaschige Verbreitung von Benzin-Direkteinspritzern, die seit der Aufdeckung des Dieselskandals 2015 noch einmal stark zugenommen hat, stieg der Partikelausstoß des Pkw-Verkehrs wieder an. Die Politik steuert mit strengeren Abgasvorgaben für Benziner gegen, und die Autoindustrie antwortet mit dem flächendeckenden Einsatz von Otto-Partikelfiltern. Auch dieses Problem dürfte also nur von temporärer Dauer sein.

Abgastest NOx Emissions Analytics VW Golf Variant
H.-D. Seufert

Weit schwerer scheint das zweite Aber zu wiegen. Heutzutage sind nämlich die Nicht-Abgas-Emissionen die Hauptquelle für verkehrsbedingten Partikelausstoß. Als führende Quellen gelten dabei Bremsen und Autoreifen, weshalb sich Emissions Analytics erstmals intensiv mit dem Thema Reifenabrieb befasst hat. Dabei stellten die Briten fest, dass deren Verschleiß viel höher ist als ursprünglich gedacht. In einem „Worst Case“-Szenario fanden sie heraus, dass die Partikel-Emissionen mehr als 1.000 mal so hoch sind wie am Auspuff.

Massenverlust von 0,58 g/km

Der Versuchsaufbau sah folgendermaßen aus: Emissions Analytics rüstete einen 2011er VW Golf mit den billigsten Reifen aus, die der Markt hergab, belud das Auto bis ans Limit und für einen 320 Kilometer langen Testzyklus mit hohen Geschwindigkeiten über eine kurvenreiche Strecke mit durchschnittlicher Oberflächenqualität. Das führte zu einem Massenverlust an den vier Reifen von insgesamt 1.844 Gramm, was 0,58 Gramm pro Kilometer entspricht. Zum Vergleich: Der aktuelle Abgas-Grenzwert für Feinstaub-Partikel liegt bei 4,5 Milligramm pro Kilometer.

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Wer den Test für unrealistisch hält, sollte bedenken, dass im Alltag weitere Unwägbarkeiten lauern. Während Emission Analytics neue Reifen verwendete und diese korrekt aufpumpte, sind im Wahrheit viele Autofahrer mit alten Pneus und zu geringem Reifendruck unterwegs, was den Verschleiß erhöht. Zudem werden Tempolimits gebrochen, sind Straßenbeläge oft rauer als der von den Experten gewählte und kommen Billigreifen immer öfter zum Einsatz.

02/2019, 1987 Buick GNX
bringatrailer.com

Mikroplastik ist ein weiteres Problem

Natürlich besteht der Reifenabrieb zumeist aus Partikeln, deren Durchmesser größer ist als 10 Mikrometer (PM10). Dagegen handelt es sich beim Feinstaub aus dem Auspuff – vor allem bei Benzinern – meist um kleine, für die Gesundheit schädlichere Partikel. Diese sind oft noch kleiner als die aktuell erfassten, maximal 2,5 Mikrometer großen PM2,5-Partikel, und können leichter in Herz, Lungen und Atemwege gelangen und diese schädigen. Doch auch Autoreifen emittieren Mikropartikel, indem sich Partikel durch die Hitze in den Reifen verflüchtigen. Zu welchem Anteil, bliebt in der Emission Analytics-Untersuchung allerdings offen.

Auf ein weiteres Problem machte das Fraunhofer-Institut im Sommer 2018 aufmerksam: Autoreifen sind mit großem Abstand hauptverantwortlich für das weltweite Problem mit Mikroplastik, einer Unterart der Mikropartikel: Pkw emittieren mehr als elfmal so viel unlösliches Mikroplastik wie Lastwagen. Überhaupt spielt der Straßenverkehr innerhalb des Problemfeldes eine große Rolle. In der Liste der Verursacher landet der Abrieb von Bitumen in Asphalt auf Platz drei (hinter Freisetzungen bei der Abfallentsorgung). Der Abrieb von Fahrbahnmarkierungen ist die neuntgrößte Quelle. Aber auch Fußgänger leisten ihren Beitrag: Der Abrieb von Schuhsohlen landet auf Platz sieben im Fraunhofer-Ranking, das 51 Verursacher auflistet.

Insgesamt kommen in Deutschland pro Jahr 330.000 Tonnen an Mikroplastik zusammen. Jeder Bundesbürger ist also für etwa vier Kilogramm dieser Umweltbelastung verantwortlich. Überraschend auch: Glaubt man den Autoren der Studie, ist Mikroplastik ein weitaus größeres Problem als Makroplastik, also Plastiktüten und -flaschen oder Strohhalme und Plastikteller. Während Letzteres gerade einmal 26 Prozent der gesamten Umweltbelastung durch Kunststoffe ausmacht, liegt der Anteil von Mikroplastik bei 74 Prozent. „Dem, was für jeden offensichtlich ist, steht also eine in etwa dreifach größere Menge gegenüber, die zum Teil nur unter dem Mikroskop sichtbar wird“, heißt es dazu in der Fraunhofer-Studie.

Sechs Kilogramm Abrieb pro Reifensatz

Wie die Autoren bekennen, war es nicht leicht, die Mikroplastik-Quellen vergleichbar in Zahlen zu präsentieren: „Bei den Quantifizierungen konnten wir uns nur auf wenig experimentelle Daten stützen“, schreiben die Fraunhofer-Forscher. Sie stützten sich deshalb in erster Linie auf Produktionszahlen oder Verbrauchsdaten. Beispiel Schuhsohlen: „Wir sind von der Gesamtzahl der pro Jahr in Deutschland verkauften Schuhe ausgegangen“, sagt Co-Autorin Leandra Hamann der dpa. Zusammen mit der durchschnittlichen Schuhgröße, der Sohlenfläche und der Annahme, dass pro Kopf und Jahr fünf Paar Schuhe ausrangiert werden, ergebe dies eine vergleichbare Zahl.

Reifenabrieb Fraunhofer-Studie 2018
Fraunhofer Institut

Ist es vor diesem Hintergrund realistisch, dass Reifenabrieb in Deutschland tatsächlich der Hauptverursacher von Mikroplastik in Deutschland ist? Auch hierzu haben die Fraunhofer-Forscher interessante Zahlen in petto. „Man sagt, dass ein Reifen innerhalb seines Lebens im Schnitt 1,5 Kilogramm an Gewicht verliert“, sagt Diplom-Ingenieur Ralf Bertling im Interview mit dem Deutschland-Funk. Dabei nimmt der Forscher eine Jahres-Laufleistung von 15.000 Kilometern und eine Lebensdauer von vier Jahren an. Wird nach diesem Zeitraum ein ganzer Reifensatz getauscht, verliert ein Auto demnach ganze sechs Kilogramm. Das summiert sich hierzulande auf insgesamt 80.000 bis 110.000 Tonnen, die bei Niederschlägen entweder in die Kanalisation gespült werden oder ins Erdreich gelangen – jedes Jahr. Vor diesem Hintergrund erscheint das Mikroplastik-Ranking ziemlich plausibel.