Deutschland wird das Ziel, 2030 bereits 15 Millionen E-Autos auf den Straßen zu haben, wohl deutlich verfehlen. Experten gehen davon aus, dass bis dahin nur 11 Millionen batterieelektrische Autos hierzulande unterwegs sein werden. Bezogen auf den aktuellen Fahrzeugbestand wären das gerade mal 22,5 Prozent. (In unserer Bildergalerie sehen Sie die meistverkauften E-Autos Deutschlands im ersten Halbjahr 2023.)
Angesichts der laut anderer Experten immer noch zu langsam wachsenden Ladeinfrastruktur mag man das mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen. Aber es zeigt doch, dass trotz vieler Lippenbekenntnisse die Antriebswende nicht gerade energisch angegangen wird. Das Passiv des vorangegangenen Satzes ist hier mit Bedacht gewählt. Nicht weil das Subjekt unbekannt wäre, sondern weil es mehrere sind, die sich allenfalls in Begriffen wie "die Volkswirtschaft" oder "die Gesellschaft" zusammenfassen lassen. Dazu gehören Politik, Industrie, Verbraucher und Nicht-Regierungs-Organisationen wie Lobbyvereinigungen und Umweltverbände.
Der Spruch ist so alt wie wahr: Hinterher ist man immer schlauer. Aber ein Blick zurück auf das Zustandekommen von Entwicklungen kann tatsächlich schlauer machen – wie man es in Zukunft besser machen kann, woraus sich Handlungsanweisungen für die Gegenwart ableiten lassen. Wie ist der schleppende Hochlauf der Elektromobilität zustande gekommen, wie haben die Protagonisten des Systems agiert?
Politik – Förderung ohne Forderungen und ohne Plan
Das Vorgehen "der Politik" war zumindest seitens der EU besser als ihr Ruf: Bereits 1995 hat die EU-Kommission eine Strategie zur Senkung von CO₂-Emissionen von Pkw erarbeitet. Hauptaspekte: Selbstverpflichtungen der Automobilindustrie, bessere Informationen für Verbraucher, Förderung von Fahrzeugen mit niedrigem Treibstoffverbrauch. 1998 verpflichtete sich der Verband europäischer Automobilhersteller (ACEA) die CO₂-Emissionen der Neuwagenflotte bis 2008 auf 140 g/km zu senken, ab dem Jahr 2000 etablierten EU-Parlament und Rat ein System zur Überwachung der durchschnittlichen CO₂ -Emissionen neuer Pkw und legten 120 g/km als Zielwert für 2005 beziehungsweise spätestens 2010 fest.
2010 kam die verbindliche Festlegung auf 130g/km und 95 g/km für 2020, eine weitere Senkung in der Folge war absehbar. Spätestens da musste klar sein: Mit Verbrennungsmotoren allein wird das nicht erreichbar sein.
Die Umsetzung durch die deutsche Politik war wenig konsequent: 2009 noch steckte der Staat fünf Milliarden in die Abwrackprämie, die keine Vorgaben zu den CO₂-Emissionen bei den Förderbedingungen machte. Eine nennenswerte Förderung der Autoindustrie, die emissionsfreie Technologien zum Ziel hatte, gab es nicht, vor allem keine, die das Zukunftsfeld Batterien in den Blick nahm.
Auch später nicht, als sich der E-Antrieb mehr und mehr als 90-Prozent-Lösung für den Pkw-Sektor herausstellt. Die Idee, Europa zum Standort für die Batterieproduktion zu machen, ist viel zu jung. Gleichzeitig scheitert der beschleunigte Ausbau der Ladeinfrastruktur an bürokratischen Hürden, man denke nur an das Wohnungseigentumsgesetzes, dessen Reform erst seit Ende 2020 ermöglicht, dass Mieter und Wohnungseigentümer eine Lademöglichkeit an ihrem Stellplatz rechtlich durchsetzen können.
Industrie – Glaube an Verbrenner zu groß
Die meisten Autobauer hielten an der etablierten Technologie fest, investierten Milliarden in deren Weiterentwicklung und die Erfüllung der immer strenger werdenden Abgas-Grenzwerte – ein zweites Problemfeld für die Zukunftsfähigkeit des Verbrenners. Die technischen Lösungen dafür waren teuer, die Missachtung der Grenzwerte auch, wie wir seit dem Dieselskandal wissen.
Einzig bei BMW schien man zumindest für urbane Mobilität Alternativen in Erwägung zu ziehen: Mitten in der Finanzkrise hoben die Münchner das Projekt Megacity Vehicle aus der Taufe, aus dem die Submarke BMW i und der i3 entstanden. Ein erstes Concept Car debütierte 2011, 2013 ging der Kleinwagen mit E-Antrieb und optionalem Range Extender in Serie. Schon 2009 meldeten die Münchner SB LiMotive als Batterielieferanten für das Megacity Vehicle. Das Unternehmen war ein 50-zu-50-Joint-Venture zwischen Bosch und Samsung SDI. Das klingt selbst aus heutiger Sicht zukunftweisend. Aber schon 2012, nach nur vier Jahren, wurde das Joint Venture wieder aufgelöst, die Zellentwicklung ging nach Südkorea, bei Bosch bleiben nur das Batteriesystemgeschäft und aus heutiger Sicht läppische 45 Millionen Euro.
Industrie – lieber kurzfristige Gewinne als langfristige Investitionen
Einen ähnlichen Betrag (50 Millionen Dollar) hatte Daimler 2009 in E-Autos investiert: Die Schwaben erwarben 9,1 Prozent an einem damals in großen Kapitalnöten steckenden E-Auto-Start-up namens Tesla. Schon ein paar Monate später veräußerten sie einen Teil ihrer Aktien an den Staatsfonds Aabar aus Abu Dhabi; mit der Veräußerung der restlichen vier Prozent machten die Schwaben im Oktober 2014 ordentlich Kasse (611 Millionen Euro) – und aus heutiger Sicht trotzdem nicht nur aus Rendite-Gesichtspunkten einen großen Fehler.
2015 nahm der Dieselskandal seinen Lauf und versetzte dem Glauben an die Zukunftsfähigkeit des Verbrenners einen schweren Schlag. Ende 2015 hatte Daimler die Fertigung eigener Batteriezellen aufgegeben, Anfang 2016 eröffnete Tesla seine erste Gigafactory in Nevada, wo die Amerikaner seitdem in Zusammenarbeit mit Panasonic Batterien für E-Autos fertigen, während der damalige VW-Chef Matthias Müller noch im August 2016 zum Bau einer VW-eigenen Batteriefabrik meinte: „So einen Blödsinn machen wir sicherlich nicht.“
Verbraucher – bitte alles lassen, wie es ist!
Bewährte Technologien haben nicht nur in der Industrie, die viel Geld in sie investiert hat, das sie wieder verdienen will, ein großes Beharrungsvermögen. Autofahrer haben sich jahrzehntelang daran gewöhnt, dass sie zu jeder Zeit an Tankstellen binnen Minuten viel Reichweite bunkern können, kennen zuverlässige und sparsame Automodelle, wissen über die Kosten von Betrieb und Wartung Bescheid, können die Haltbarkeit einschätzen. Dagegen kommt eine neue, teure Technologie schwer an: Warum für ein E-Auto mehr bezahlen, wenn es nicht so weit kommt und unklar ist, wie lange es hält? Das Problem mit alternden Akkus kennt man schließlich von Smartphones. Verständliche Vorbehalte, die auszuräumen gewisser kommunikativer Anstrengungen bedarf, die Otto-Normalverbraucher versteht – und nicht nur begeisterungsfähige Early-Adopter.
Lobbyverbände vertreten Interessen – ihre eigenen
Diese Skepsis unterstützen zahlreiche Interessensvertreter: Die Mineralölindustrie etwa hat viel Umsatz zu verlieren. Allein Aramco, der größte Erdölkonzern der Welt, setzte 2021 400,47 Milliarden US-Dollar um, und erwirtschaftete einen Gewinn in Höhe 110 Milliarden US-Dollar. Gute Gründe, gegen Alternativen zu lobbyieren.
Selbst Umweltverbände spielen im Diskurs oft eine kontraproduktive Rolle, weil der Gesamtzusammenhang kompliziert und schwer zu kommunizieren ist. Forderungen, nach höheren Spritpreisen und CO₂-Abgaben zielen aus der Sicht der Verbraucher auf ihren Geldbeutel und nicht auf die Umwelt. Damit ist für manchen Autofahrer klar, dass Umweltverbände nicht ihre Interessen vertreten.
Unselig an solchen Frontstellungen: Die neutrale Sicht auf sachlich richtige Lösungen hat keine Lobby.