eCall im Test: Ist auf den automatischen Notruf Verlass?

eCall im Test
Ist auf den automatischen Notruf Verlass?

Erinnern kann sich Maximilian Arend noch an ein 50er-Schild. Er wird bewusstlos, kommt erst wieder zu sich, als sein Auto gegen einen Baum gekracht ist. Vage erinnert sich der junge Mann später, eine Telefonstimme gehört zu haben.

"Nach einem Unfall war eCall mein Lebensretter"

E-Call-Test, ams2323
Claudius Maintz

Schnell sind die Retter vor Ort und versorgen ihn, der gerade von der Arbeit im Lager eines Autohauses kommt. Schon vor dem Losfahren hatte er Kopfweh und ein "schwummriges Gefühl", wie er sagt. Doch Arend dachte sich, es seien ja nur 10 bis 15 Autominuten nach Hause. Im Krankenhaus stellt sich später heraus, dass er unterzuckert war, er hatte den Tag über zu wenig gegessen und getrunken. "Es ist ein merkwürdiges Gefühl, zu wissen, dass es auch hätte anders laufen können", sagt der 24-Jährige sieben Monate später. "Ich will mir gar nicht vorstellen, was los gewesen wäre, wenn ich in einem 15 Jahre alten Auto ohne eCall gesessen hätte."

Pflicht seit 2018

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Sveinn Gunnar Baldvinsson

Seit dem 31. März 2018 ist eCall in der EU Pflicht. Allerdings nur für Automodelle, die seitdem mit neuer Typgenehmigung auf den Markt gekommen sind. Facelifts, die eine alte Typgenehmigung weiternutzen, haben eCall in der Regel nicht an Bord.

Auf dem Markt sind zwei Systeme: Der sogenannte 112-eCall, der auf Basis der Notrufnummer 112 direkt in der nächstgelegenen Rettungsleitstelle ankommt. Und der sogenannten TPS-eCall (TPS = Third Party Service), der zunächst einen Umweg über ein Callcenter des Herstellers nimmt. Sind beide Systeme an Bord, ist TPS oft voreingestellt.

Doch wie zuverlässig ist die Technik? Das wollen wir in einer Stichprobe zusammen mit dem ADAC herausfinden. Der Vorteil: Im Technikzentrum des Clubs in Landsberg am Lech (Bayern) gibt es eine Menge Testwagen – und auch die zuständige Integrierte Rettungsleitstelle (ILS) Fürstenfeldbruck hat Erfahrungen mit eCalls. Bei Crashtests werden diese regelmäßig abgesetzt. Wir lassen das Blech heil, beschränken uns auf das Drücken der SOS-Taste, die meistens nahe der vorderen Innenraumleuchte sitzt. Auch diese Taste kann Leben retten. Zum Beispiel wenn der Fahrer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die 112 wählen kann. Etwa weil er kurz nach dem Einsteigen Kreislaufprobleme bekommt.

Die Autos platzieren wir jedes Mal an der gleichen Stelle. Um die GPS-Verbindung zu aktivieren, drehen wir vorher eine Runde durch die Gegend.

Den Anfang macht ein VW ID.3. Die SOS-Taste verbirgt sich hinter einer kleinen Kunststoffklappe. Schon nach 26 Sekunden steht die Direktverbindung zur Rettungsleitstelle. Ein Callcenter ist bei dem fast zweieinhalb Jahre alten Fahrzeug nicht im Spiel.

VW: eCall-Art frei wählbar

E-Call-Test, ams2323
Sveinn Gunnar Baldvinsson

VW verweist darauf, dass Kunden bei aktuellen Modellen frei zwischen TPS- und 112-eCall wählen könnten. Im Test-ID.3 ist der direkte Draht zur Feuerwehr programmiert, Hilfe wäre daher schnell vor Ort gewesen.

Bei einer aktuellen Mercedes B-Klasse lösen wir erneut manuell aus – und werden 24 Sekunden später auf Englisch angesprochen. Die Sprache richte sich nach der, die im Bordsystem eingestellt ist, erklärt Mercedes. Ausnahme: Alle deutschsprachigen Mitarbeiter sind gerade beschäftigt. Auch bei ausgeschalteter Zündung erfolge der eCall zunächst auf Englisch. Als die Dame am anderen Ende der Leitung hört, dass ich lieber Deutsch sprechen möchte, ist das sofort möglich. Positiv: Zwei Mitarbeiter kümmern sich um den Notruf. Einer verständigt die Leitstelle, ein anderer bleibt beim "Patienten".

Herstellernotruf seit Jahren ohne Lizenz

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Sveinn Gunnar Baldvinsson

Trotzdem sieht Carsten Schneider vom Deutschen Feuerwehrverband (DFV) den Herstellernotruf kritisch. Im Sinne der Unfallopfer wäre es aus Sicht des DFV besser, wenn das Personal in den 112-Leitstellen "sofort und unmittelbar mit den Betroffenen sprechen könnte". Die Mitarbeiter in den 112-Leitstellen seien intensiv geschult, "Menschen in Lebensgefahr auf kürzestem Weg die richtige Hilfe zukommen zu lassen und bereits am Telefon lebensrettende Maßnahmen anzuleiten. Das kann so niemand anderes leisten. Nicht umsonst ist die Bearbeitung von Notrufen eine hoheitliche Aufgabe, die ausschließlich von öffentlichen Trägern wahrgenommen wird."

In Deutschland gibt es eigentlich nur einen eCall – nämlich den staatlichen, der sich über die 112 direkt mit der nächstgelegenen Leitstelle verbindet. Der Herstellernotruf TPS-eCall habe "in Deutschland noch keine Rechtsgrundlage, findet aber statt", sagt Carsten Schneider vom Deutschen Feuerwehrverband (DFV). Auch acht Jahre nach Inkrafttreten der EU-Richtlinie 758/2015 und einem EU-Parlamentsbeschluss zur Regulierung von TPS ist diese noch nicht in deutsches Recht umgesetzt. Das Bundesverkehrsministerium erklärt auf Nachfrage, das sei auch gar nicht nötig. "Da eine EU-Verordnung in den Mitgliedsstaaten unmittelbar geltendes Recht ist und beide Systeme, also sowohl der eCall als auch der TPS-eCall, laut Verordnung möglich sind, sind solche Systeme in Deutschland zulässig." Aber: Die Länder würden derzeit "in Bezug auf TPS verschiedene Anerkennungsmöglichkeiten diskutieren".

Und die sind entscheidend – etwa für die Auswahlkriterien an das Personal in den Callcentern. Anders als in Leitstellen arbeiten hier nicht immer Rettungsfachkräfte. "Dieses rechtliche Vakuum beim TPS-eCall wirft Haftungsfragen auf, etwa wenn ein eCall falsch behandelt wird oder nicht speziell für Notfallsituationen geschultes Personal falsche Schlussfolgerungen zieht", so Schneider. Die Tätigkeit der Drittanbieter müsse "endlich geregelt und überwacht" werden, sagt Schneider.

Die Qualifikation der TPS-Callcenter-Mitarbeiter für den Umgang mit "echten" Notrufen sei "völlig unklar, während es in den öffentlichen 112-Leitstellen klar definierte und hohe Qualitätsanforderungen hierfür gibt". Laut Schneider, der selbst in einer Leitstelle arbeitet, bestehen auch kein Verfahren und keine Infrastruktur für eine Datenübertragung. Das "Minimum Set of Data" des Unfalls erreiche die 112-Leitstellen daher per Telefon – was zu Übertragungsfehlern führen könne. "Sprache ist immer interpretierbar", sagt Schneiders Kollege Roman Köhler von der ILS Fürstenfeldbruck.

Die Firma Bosch Service Solutions wickelt zum Beispiel für Mercedes und andere Hersteller TPS-eCalls ab. Eine Sprecherin verweist darauf, dass dies "unter Einhaltung der für diesen Dienst relevanten EU-Normen" geschehe, und begrüßt die bevorstehende Zertifizierung. Mit Autoherstellern habe Bosch ein Trainingsprogramm "zu Ablauf, Prozess und Umgang mit kritischen Situationen sowie fortlaufende Trainingsangebote zur Auffrischung und Vertiefung entwickelt".

Doch warum sind Teile der Autoindustrie trotz steigendem Kostendruck so scharf darauf, auf eigene Kosten Callcenter zu betreiben, wenn doch die Dienstleistung der Rettungsleitstellen kostenlos ist? Eine Vermutung hat der ADAC. Sprecherin Katja Legner: "Die Hersteller wollen quasi monopolartig als Erste über Unfälle Bescheid wissen, um mit zusätzlichen Services und Angeboten Geschäfte machen zu können, etwa mit der Organisation des Abschleppdienstes, der Reparatur des beschädigten Autos oder der Bereitstellung eines Unfall-Ersatzwagens oder sogar eines Neuwagens. Das darf nicht sein!"

TPS ist immer eingebucht

E-Call-Test, ams2323
Sveinn Gunnar Baldvinsson

Mercedes verweist auf zahlreiche Vorteile, die sein System biete. So sende der staatliche eCall Notrufdaten lediglich über die Mobilfunknetze 2G und 3G, die bis 2025 abgeschaltet würden. Doch diese Deadline ist nach Informationen von auto motor und sport gar nicht sicher. Zudem soll bereits daran gearbeitet werden, den 112-eCall auch in 4G und 5G anzubieten.

Laut Mercedes ist der eigene Notrufassistent im Gegensatz zu 112-eCall permanent im Mobilfunknetz eingebucht. Allerdings war das eine Voraussetzung für eCall generell. Die EU-Gesetzgeber wollten unter anderem aus Datenschutzgründen gerade keine Standleitung in die Leitstelle. So ohne Weiteres kann bei Daimler nicht in den staatlichen 112-eCall gewechselt werden. "Der Mercedes-Benz-Notruf lässt sich nur auf expliziten Wunsch durch die Werkstatt deaktivieren", so ein Sprecher.

Die B-Klasse ist nicht das einzige Fahrzeug mit TPS-eCall in unserem Test. Auf Knopfdruck meldet sich auch im BMW 420i die Stimme aus dem Callcenter; elf davon betreibt der Hersteller weltweit. Auch hier bleibt ein Operator beim Anrufer, während ein anderer die Leitstelle verständigt. Dort kommt das Gespräch auch schnell an, das Fahrzeug wird an der richtigen Stelle geortet. Die Mitarbeiterin rät sogar noch, auf keinen Fall weiterzufahren, und erkundigt sich zur Sicherheit nach meiner Mobilfunknummer. Auch BMW empfiehlt TPS. Selbst im Ausland könnten Insassen so in ihrer Muttersprache kommunizieren. Zudem würden aus dem verunglückten Auto "zusätzliche Informationen gesendet, die über die gesetzlich vorgeschriebene eCall-Version hinausgehen", etwa die Schwere von Verletzungen. Auffällig bei BMW: Einmal ausgelöst, lässt sich der eCall nicht mehr abbrechen. "Dies dient der Vermeidung eines unbeabsichtigten Beendens des Anrufs im Falle eines Unfalls, wenn Kunden möglicherweise unter Schock stehen", so ein Firmensprecher. Auf ausdrücklichen Kundenwunsch erfolgt der Wechsel vom Hersteller- zum staatlichen Notruf nach Abgabe einer schriftlichen Erklärung "over the Air", also ohne Werkstattbesuch.

Ein paar Preisklassen unter dem BMW rangiert der nächste Testkandidat, ein Hyundai Bayon. Hier sitzt die SOS-Taste hinter einer Plastikklappe. Bei ausgeschalteter Zündung passiert nach dem Drücken nichts. Auch im zweiten Anlauf: keine Verbindung! "Dies ist Teil der offiziellen Verordnung, das System soll beim Einschalten der Zündung aktiviert werden", erklärt ein Hyundai-Sprecher, "ein Szenario, in dem ein eCall aus einem abgeschalteten Fahrzeug abgesetzt werden muss, ist uns nicht bekannt."

Also Zündung an! Und siehe da, die Verbindung baut sich nach dem Loslassen der SOS-Taste auf. Aber: Im ersten Versuch ist die Leitstelle trotz Freizeichen erst nach 1:18 Minuten dran. Im zweiten Anlauf geht es schneller. Wir stoppen 15 Sekunden.

Erst Zündung an, dann eCall

E-Call-Test, ams2323
Sveinn Gunnar Baldvinsson

Ähnlich läuft es bei Ssangyong Korando und Toyota Yaris Cross – auch hier geht es nur bei eingeschalteter Zündung direkt in die Leitstelle, jeweils in weniger als 30 Sekunden.

Beim Opel Astra sind es 25 Sekunden, bis der 112-eCall steht – und das sogar ganz ohne Zündung. Praktisch bei irrtümlicher Auslösung: Zwei Sekunden danach lässt sich der Notruf durch erneutes Drücken stoppen. Auch der Peugeot 408 – wie der Opel aus dem Stellantis-Konzern – hat den 112-eCall an Bord. Der ist auch ohne Zündung aktiv. Verbindungszeit: akzeptable 42 Sekunden.

Beim Renault Megane E-Tech muss die SOS-Taste drei Sekunden gedrückt sein, damit man per 112-eCall direkt in die Leitstelle kommt. Darüber informiert ein kleines Pop-up-Fenster, das beim Test nicht sofort gefunden wird. Nach 25 Sekunden steht die Leitung.

Tesla: SOS per Touchscreen

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Sveinn Gunnar Baldvinsson

Das einzige Auto der Stichprobe ohne klassische SOS-Drucktaste ist Teslas Model Y. Stattdessen gibt es eine kleine Schaltfläche rechts oben im Zentral-Bildschirm. ADAC-Ingenieurin Isabella Ostermaier ist der Meinung, dass die eCall-Taste bei jedem Auto schnell zu finden sein sollte. Etwa "als roter leuchtender Knopf im Dachmodul und nicht nur als kleiner Button auf einem großen Bildschirm. Zudem ist eine klare Rückmeldung an den Insassen nötig: Versucht das System, einen Rufaufbau herzustellen? Klingelt es?"

Tippt man beim Tesla auf die kleine Touchfläche, erscheint ein größeres Fenster zur finalen Auslösung des 112-eCalls. Deutlich sichtbar: der Hinweis, dass ein Missbrauch strafbar sein kann. Auch wenn es beim Rufaufbau stark rauscht, ist die Rettungsleitstelle nach 33 Sekunden dran und klar zu verstehen.

Wie aber ist es bei Neulingen auf dem deutschen Markt? Der Nio ET5 kommt aus China, der herstellergebundene TPS-eCall ist – wie auch beim Testwagen – voreingestellt. Über das Bordmenü kann aber jederzeit in den 112-eCall gewechselt werden. Nach nur 18 Sekunden nimmt eine Dame mit österreichischer Sprachfärbung den Notruf an. Sie fragt, ob sie die Rettung rufen solle. Als ich "Ja" sage, verabschiedet sie sich, der "Patient" bleibt sich selbst überlassen. "Das Gespräch wird im Normalfall beendet, sobald das Callcenter sichergestellt hat, dass die entsprechende Notrufzentrale alarmiert und Rettungsfahrzeuge auf dem Weg sind", erklärt Nio dazu. Nur wenn die Situation es erfordere, bleibe das Callcenter dran.

Obwohl wir den Test im Vorfeld mit der Leitstelle abgesprochen haben, kommen eine Viertelstunde später erst die Polizei und dann auch ein Rettungswagen. Das war nicht geplant und ist offenbar eine Folge dessen, was Fachleute "Stille-Post-Effekt" nennen. Unser Anruf landete zunächst in Österreich beim Autoclub ÖAMTC. Der kontaktierte die dortige Polizei, die eine Verbindungsstelle ihrer deutschen Kollegen verständigte. Über die Polizei Ingolstadt kamen die Informationen schließlich in Fürstenfeldbruck an. Allerdings ging unterwegs offenbar verloren, dass es sich um einen eCall handelte, und auch die Fahrgestellnummer wurde nicht übertragen. So konnte unser Anruf nicht dem Test zugeordnet werden, Polizei und Rettung fuhren los. Die Leitstelle wollte auf Nummer sicher gehen – verständlicherweise.

Hilferuf aus dem Funkloch

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Sveinn Gunnar Baldvinsson

Ob eCall auch ohne Handyempfang funktioniert, haben wir zwischen den Dörfern Oed und Reuth getestet, 17 Kilometer südlich vom Münchner Stadtrand. Ein offizielles Funkloch, verzeichnet am Tag der eCall-Stichprobe auf der Versorgungskarte der Bundesnetzagentur. Genau hier setzen wir per Knopfdruck einen eCall aus dem Peugeot 408 ab. Zu meiner Überraschung meldet sich tatsächlich die nächstgelegene Rettungsleitstelle. Wie kann das sein – zumal drei Mobiltelefone mit Vodafone-, O2- und T-MobileVertrag hier mitten im Wald keinen Empfang anzeigen? Warum komme ich dann trotzdem durch? Mögliche Erklärung: Bei einem Notruf über 112-eCall wird der Anruf im Netz priorisiert, falls nötig ein alternatives Mobilfunknetz genutzt und eventuell auch andere Gespräche in der betroffenen Mobilfunkzelle unterbrochen. "Mit TPS-eCall wäre der Notruf wahrscheinlich nicht absetzbar gewesen", sagt Carsten Schneider vom Deutschen Feuerwehrverband.

ADAC-Ingenieurin Isabella Ostermaier zieht ein eindeutiges Fazit: "Das Notrufsystem muss im Ernstfall funktionieren – egal ob über die 112 oder ein Hersteller-Callcenter."