Defizite im Fussgängerverkehr: Was tun Städte, Länder und der Bund?

Defizite im Fussgängerverkehr
Läuft nicht rund

Läuft nicht rund
Foto: Shutterstock/Vaclav Mach

Keine Art der Fortbewegung ist beliebter als das Zufußgehen. Laut Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur (BMVI) gehen mehr als 80 Prozent der Deutschen gerne zu Fuß. Mehr noch: Fast jeder dritte Weg wird demnach so zurückgelegt.

Besonders Frauen, Kinder und ältere Menschen bewegen sich oft auf diese Weise fort. Den höchsten Fußverkehrsanteil haben die über 80-Jährigen mit 34 Prozent. Zudem bestätigt die BMVI-Erhebung "Mobilität in Deutschland" (MiD), dass das Gehen vor allem im Alter dazu beiträgt, mobil zu bleiben. Und: Es spart Geld und schont gleichzeitig die Umwelt, wenn wir das Auto stehen lassen.

"Nicht zuletzt ist es gesund: Nach Studien aus England führt 20 Minuten tägliches Gehen dazu, dass die Lebenserwartung im Schnitt um mehr als acht Monate steigt. Gehen kostet also im Endeffekt nicht Lebenszeit, sondern schenkt sie", sagt Roland Stimpel, Vorstandsmitglied des Fachverbands Fußverkehr Deutschland (FUSS e. V.).

Die Schattenseite: Der Fußverkehr kann – gerade im innerstädtischen Raum – sehr gefährlich werden. Auch wenn erfreulicherweise die Anzahl der im Straßenverkehr getöteten Fußgänger über die letzten Jahre gesunken ist, sind sie noch immer die gefährdetste Gruppe. Allein im Jahr 2020 starben laut Destatis 376 Fußgänger, 275 davon innerorts. Bezogen auf alle Unfälle war menschliches Fehlverhalten die häufigste Unfallursache. Dabei waren 88,5 Prozent der Unfälle mit Personenschaden auf das Fehlverhalten von Fahrzeugführern zurückzuführen, 2,9 Prozent auf das Fehlverhalten von Fußgängern, 8,6 Prozent auf allgemeine Ursachen wie Witterung oder technische Mängel.

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Ältere und Kinder betroffen

Eine von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in Auftrag gegebene Studie hat außerdem gezeigt, dass es sich bei mehr als der Hälfte der Unfälle von Fußgängern innerorts um "Überschreiten-Unfälle" handelt und Radfahrer nach Pkw die häufigsten Konfliktpartner sind. Des Weiteren geht aus der Verletztenstatistik hervor, dass gerade Ältere und Kinder oft betroffen sind. Nur ein Beispiel: Von den 5130 schwer verletzten Fußgängern im Jahr 2020 waren laut Destatis 1189 Personen 75 Jahre oder älter.

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Fragt man Roland Stimpel nach den Ursachen für diese Unfälle, sieht auch er die Problematik gerade beim Überqueren von Fahrbahnen: "Auf freier Strecke fehlen oft Querungshilfen. Vor allem alte Leute scheuen lange Wege zur nächsten Ampel oder Mittelinsel." Oft sei außerdem die Fahrgeschwindigkeit für ein sicheres Queren zu hoch und die Fahrzeugfolge zu dicht. Auch beachteten viele Abbieger den Vorrang von Fußgängern nicht. Ampeln, die gleichzeitig Fußgängern und neben ihnen Abbiegern Grün geben, seien eine besondere Gefahrenquelle. Gerade das sind aber auch die Situationen, die für Autofahrer eine große Herausforderung darstellen.

"Vor allem Kindern und Senioren gegenüber muss sich unsere Haltung grundlegend ändern: Diese Menschen können sich rein physisch nicht dem heutigen Verkehr anpassen. Also muss sich der Verkehr den Menschen anpassen", sagt Stimpel weiter. Damit sind aber nicht nur die Autofahrer gemeint, die mehr Rücksicht auf Fußgänger nehmen sollen. Es geht hier vor allem darum, Städte so zu planen, dass sie für den Fußverkehr eine sichere Bewegungsfreiheit mit breiten Gehwegen und Platz für alle Verkehrsteilnehmer ermöglichen.

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Gerade das wurde in der Vergangenheit stark vernachlässigt. Denn immer, wenn es um die notwendige Mobilitätswende in Sachen Klimaschutz geht, spricht alles von der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs oder dem Ausbau des Radwegenetzes, aber nur selten jemand vom Fußverkehr. Bereits im Jahr 2018 hat das Umweltbundesamt (UBA) deshalb einen sogenannten Ressortforschungsplan zu diesem Thema herausgegeben, in dem es Vorschläge für eine bundesweite Fußverkehrsstrategie vorstellt.

Zu wenig Personal

Die Betonung liegt hier auf "bundesweit". Denn der Bericht enthält auch eine Defizitanalyse. Und zu den Knackpunkten, warum es nicht so rundläuft, wie es sollte, gehören demnach zu weit verstreute Zuständigkeiten und fehlendes Personal – und das gilt sowohl für die Bundes- als auch für die Länderebene und die Kommunen. Dabei sind die Länder und die Kommunen verantwortlich für die Planung des Stadtverkehrs.

Neben den bereits erwähnten Problemen in Sachen Sicherheit kritisiert das UBA auch die schlechte Datenlage. Der Fußverkehr werde bislang nur teilweise erfasst und deshalb nicht angemessen berücksichtigt. In der eingangs erwähnten BMVI-Erhebung werden beispielsweise nur Wege "nach dem Prinzip des hauptsächlich genutzten Verkehrsmittels" erhoben. Dabei – und das ist mehr als einleuchtend – stellen auch Wege von der Haustür zum Auto oder vom Büro zur Haltestelle einen Fußweg dar, der so nicht ermittelt wird. Laut UBA würde so der Anteil an Fußwegen um das Doppelte steigen.

Ein weiteres Defizit ist laut UBA, dass der Fußverkehr durch Konzentration der Planung auf den Kfz-Verkehr, durch Lärm, hohes Schadstoffaufkommen, zu schmale Wege und schlechte Beleuchtung unattraktiv wird. Ähnlich problematisch: die Barrierefreiheit. "Viele Städte und Gemeinden stehen in diesem Prozess noch am Anfang", heißt es. Häufig würden barrierefreie Zugänge nur punktuell an Haltestellen oder öffentlichen Gebäuden umgesetzt, über komplette Wegeketten seien sie selten.

Neben mangelnder Forschung und Finanzierung kritisiert das UBA außerdem, dass der Fußverkehr zum einen im Vergleich zum Autoverkehr vernachlässigt und zum anderen von Entscheidern nicht ernst genommen werde. "Der Fußverkehr hat kaum eine wirksame Lobby", heißt es. Bei all den aufgezählten Defiziten stellt sich nun natürlich die Frage: Was kann getan werden? "Tempo 30 ist der wichtigste Schlüssel zur Sicherheit. Der Anhalteweg ist nur halb so lang wie bei 50, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fußgänger bei einer Kollision stirbt, sinkt sogar um 75 Prozent", so Stimpel. Hilfreich seien Zebrastreifen und Mittelinseln sowie Ampeln, bei denen Fußgänger und Abbieger in ihre Richtung nacheinander Grün bekommen statt gleichzeitig.

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Um solche Ziele zu erreichen, brauchen die Kommunen und Länder allerdings Unterstützung vom Bund. So hat FUSS e. V. zusammen mit dem Umweltbundesamt erst kürzlich eine Broschüre herausgebracht, die es den Städten erleichtern soll, ihren Fußverkehr gut zu planen. Andere Institutionen wie der Deutsche Verkehrssicherheitsrat oder die Bundesanstalt für Straßenwesen haben ebenfalls lange Listen an Maßnahmen vorgestellt, die die Situation verbessern sollen. Inzwischen sind auch die Bundesregierung und das Verkehrsministerium aktiv geworden und setzen sich für den Fußverkehr ein, indem das BMVI eine nationale Fußverkehrsstrategie erarbeitet.

Strategie hilft Kommunen

"Eine Fußverkehrsstrategie kann den Stellenwert des Fußverkehrs erhöhen und Ländern und Kommunen eine wichtige Orientierungshilfe bei der fußgängergerechten Gestaltung ihrer Verkehrssysteme geben", heißt es auf der Website der Bundesregierung. Das wird aber auch Zeit. Schaut man sich im europäischen Ausland um, hinken wir in Deutschland ordentlich hinterher.

Bereits im Jahr 2002 gab es beispielsweise in der Schweiz den ersten Entwurf für eine nationale Strategie. Norwegen startete im Jahr 2012 mit einem Plan, das Zufußgehen für die Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Aber auch in anderen Teilen der Welt haben Länder den Fußverkehr bereits länger auf dem Schirm, wie etwa in Westaustralien, wo im Jahr 2007 eine erste Fußverkehrsstrategie vorgestellt wurde.

Damit das Thema in Deutschland noch mehr Aufmerksamkeit erhält und die Kompetenzen der verschiedenen Institutionen besser gebündelt werden können, wurde vor einigen Jahren der Fußverkehrskongress (FUKO) initiiert. Der dritte FUKO im Herbst 2020 in Stuttgart war der Startschuss für die erste deutsche Strategie. "Ich hoffe, dass wir den Rückenwind aus der heutigen Veranstaltung nutzen, um gemeinsam an die Aufgabe zu gehen, das Zufußgehen in Deutschland noch sicherer und attraktiver zu machen", sagte Karola Lambeck, Stabsstellenleiterin des BMVI, am Ende der Veranstaltung.

Im ersten Halbjahr 2021 sollte die Strategie erarbeitet werden. Was daraus geworden ist, muss sich noch zeigen. Auf Nachfrage von auto motor und sport gab es bis Redaktionsschluss keine Antwort. Die gute Nachricht: Die Länder und Kommunen tun bereits einiges für ihren Fußverkehr. Die Stadt Leipzig hat sogar ihren eigenen Beauftragten dafür.

Interview mit einem Fußverkehrsbeauftragten

Stadt Leipzig/David Quosdorf
Was sind Ihre Aufgaben als Fußverkehrsbeauftragter der Stadt Leipzig?

Ich habe eigentlich die komplette Bandbreite an Verkehrsprojekten auf meiner Tagesordnung und prüfe, ob bei diesen Bauprojekten für den Fußverkehr alles passt. Von Zebrastreifen bis Haltestellen, von Komplexbaumaßnahmen ganzer Straßenquerschnitte bis zur richtigen Bordsteinhöhe. Die zweite Ebene meiner Arbeit ist die strategische Fußverkehrsplanung, hier obliegt es mir, die konzeptionellen Planwerke für den Fußverkehr in unserer Stadt zu erstellen.

Welche Maßnahmen sollte eine Kommune ergreifen, um den Fußverkehr sicherer zu machen?

Alle Menschen müssen sich sicher, bequem, ohne Angst und ohne Hindernisse im öffentlichen Raum bewegen können. Hierzu müssen viele Gehwege gebaut oder saniert und neue Querungshilfen wie Fußgängerampeln oder Zebrastreifen geplant werden. Die illegale Nutzung von Gehwegen durch parkende Fahrzeuge darf nicht toleriert werden. Ebenso müssen gemeinsame Führungen mit dem Radverkehr vermieden werden, wenn ein Sicherheitsrisiko feststellbar ist oder die Aufenthaltsqualität beeinträchtigt wird.

Erhält der Fußverkehr zu wenig Aufmerksamkeit bei der Stadtplanung? Wenn ja, woran liegt das?

Ja. Wir haben unsere Städte lange Zeit zu stark an den Bedürfnissen des Autoverkehrs ausgerichtet. Der Fußverkehr ist buchstäblich vielerorts unter die Räder gekommen. Als Wohnstandort sind je- doch diejenigen Bereiche attraktiv, wo man alles zu Fuß erledigen kann und die wichtigen Ziele in fußläufiger Ent- fernung liegen. Um die Lebensqualität für die Menschen vor Ort zu steigern, braucht es keine Stadtautobahnen und Parkplatzwüsten, sondern Orte zum Aufenthalt, zum Flanieren und zum Wohlfühlen.

Für welche Menschen ist der Fußverkehr besonders gefährlich und warum?

Viele Verkehrsteilnehmer kennen den Paragrafen 3 der StVO nicht, welcher besagt, dass, wenn ich ein Fahrzeug führe, ich mich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen so verhalten muss, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Auch wenn Tempo 30 angeordnet ist, muss ich etwa bei spielenden Kindern am Fahrbahnrand oder bei Menschen, die Schwierigkeiten haben, die Fahrbahn zu überqueren, meine Fahrgeschwindigkeit deutlich anpassen und viel mehr Rücksicht nehmen.

Wird der Fußverkehr von Bund und Ländern ausreichend unterstützt und gefördert?

Nein. Im Gegensatz zu den anderen Verkehrsarten gibt es von Bund und Ländern für den Fußverkehr bisher keine vergleichbaren Förderprogramme. Hier ist noch viel Luft nach oben.

Haben Sie ein Auto, oder gehen Sie zu Fuß?

Ich und meine Familie haben kein privates Auto. Wir erledigen alles zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn, manchmal auch mit dem Mietauto.