Die Experten und Ingenieure in Volvos legendärem Sicherheitszentrum in Göteborg haben eine gewisse Affinität zu Großwild: Gecrashte Fahrzeuge drehen sich zur detaillierten Inspektion auf dem „Elefantengrill“ und direkt daneben hängt ein kopfloser krebsroter Gummi-Elch an dicken Stahlseilen, als sei er der nächste Hauptgang beim XXL-Barbecue. Die Szenerie zeugt von einem gewissen Humor der schwedischen Sicherheitstruppe, hat aber einen mehr als ernsten Hintergrund.
Das Problem des Elchs ist sein Körperbau

Statistisch gesehen kollidieren Tag für Tag 13 Elche mit einem Auto. Meist mit verheerenden Folgen für alle Beteiligten. Für die Frage nach dem Warum braucht es eine Mischung aus Biologie und Physik. Der leichtere Teil: die Biologie. Je nach Alter bringt so ein Elch bis 700 Kilo auf die Waage und stellt damit alleine schon durch sein Gewicht einen Unfallgegner dar, dem man besser aus dem Weg geht. Ganz entscheidend ist aber nicht das Gewicht des Elchs, sondern sein Körperbau. Anders als relativ bodennah beheimatete Wildschweine zum Beispiel, steht der Elch nämlich auf verhältnismäßig langen Beinen. Das Problem: die Physik und die Bauform moderner Fahrzeuge.
700 Kilo knallen in die Windschutzscheibe
Die sind darauf ausgelegt, bei Unfällen mit Menschen das Unfallopfer auf die Haube zu nehmen, was die Überlebenschancen deutlich erhöht. Beim Elch funktioniert das aber nicht, weil ihm die Fahrzeugfront zwar die Beine wegreißt, die Hauptmasse des Elch-Körpers dabei aber mehr oder weniger nicht mitbeschleunigt wird. Heißt: Die bis zu 700 Elch-Kilo „stehen“ relativ unbeeindruckt in einer leichten Drehung über der Motorhaube, nur um Sekundenbruchteile später mit aller Wucht in die Frontscheibe und die A-Säule des Fahrzeugs einzuschlagen. Massenträgheit trifft auf Verbundglas. Letzteres ist auf solche Belastungen nicht ausgelegt und kollabiert. Das Problem: Der Aufprall reduziert die Fahrzeuggeschwindigkeit (bei 90 km/h) meist nur um zehn bis 20 km/h. Auch die Airbags lösen aufgrund der zu geringen Verzögerung oft nicht aus. Eine Verkettung von wideren Umständen, die im schlimmsten Fall tödlich für Elch und Fahrzeugpassagiere endet.
Saab und Volvo hatten den Elch auf dem Zettel

Alle schwedischen Autobauer haben sich deshalb ziemlich intensiv mit dem Thema Elche befasst. Das funktionierte in der Vor-Supercomputer-Ära ausschließlich über Crashtests, die sowohl bei Saab, als auch bei Volvo zu Beginn mit echten, toten Elchen durchgeführt wurden. Das war aufwändig und mit Verlaub keine wirklich appetitliche Angelegenheit. Schnell machten sich die Forscher daran, Elch-Körper zu simulieren. Das Ergebnis waren künstliche Elche aus mit Wasser gefüllten Gummisäcken oder zu passenden Bündeln verschnürten Elektrokabeln. Keine der Konstruktionen konnte sich dabei durchsetzen.
2001 kam der erste Profi-Elch-Dummy
Erst 2001 entwickelte Fahrzeugingenieur Magnus Gens im Rahmen seiner Masterarbeit einen modernen Elch-Crashtest-Dummy, der noch heute zum Einsatz kommt. Wichtigste Zutat für eine professionellen Unfall-Elch: 36 Scheiben aus einem speziellen Gummigemisch (RF 19 Red), das ursprünglich entwickelt wurde, um Lkw-Ladeflächen beim Transport von Steinen und anderen scharfkantigen Gegenständen zu schützen.
Wichtig: Der RF-19-Gummi hat eine ähnliche Dichte wie ein Elch (ca. 1000 Kilo pro Kubikmeter). Der restliche Körper besteht aus Stahlblechen, Stahlseilen und Teilen eines Gartenschlauchs. Der Kopf fehlt. „Der ist beim Crash mit einem Elch nicht wichtig!“, erklärt Dr. Lotta Jakobsson, die bei Volvo das gesamte Sicherheitsprogramm leitet. „Die Gefahr geht vom Körper aus!“.
Großwild-Erkennung im Volvo

Zum Schluss entwickelten Magnus Gens und seine Kollegen noch einen elektromagnetischen Auslösemechanismus, mit dem der Crashtest-Elch unmittelbar vor dem Aufprall aufs Fahrzeug aus seiner Halterung ausgeklinkt werden kann. Der Rest ist Crahstest-Routine: Zusammenfegen. Auswerten. Schlüsse daraus ziehen. Ein Ergebnis der Forscher: Die „Large Animal Detection“-Funktionalität, die seit 2016 Teil des City-Safety-Assistenten von Volvo ist. Das System erkennt große Tiere auch bei Dunkelheit, löst eine Warnung aus und kann über den Bremsassistenten auch eine Notbremsung einleiten.