Oldtimer im Test: Opel Diplomat V8

Opel Diplomat V8 Langversion
70er-Opel-Flaggschiff im Test

Am Ende der Motorhaube, dort, wo sie in den Horizont übergeht, erhebt sich ein neuer Tag in den Himmel. Und doch wird die Sonne auch heute blasser strahlen, der Tag weniger Aufregung, Aufsehen, Erinnerung bringen als in diesen drei Tagen im Sommer. Es ist der 26. Juli 1975 und Gerald Ford, 38. Präsident der USA, auf dem Weg nach Helsinki zu einer Besprechung für die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE – gerade mit solch historisch-politischem Detailwissen lassen sich kleine Sommerflirts am Hotelpool doch ganz locker anstimmen). Der Präsident macht in Bonn für drei Tage Staatsbesuch halt. Und dabei fährt Ford im Opel. Genau in diesem.

Es ist ein Diplomat V8 mit 13 cm mehr Radstand. 10.375 Mark – gut 25 Prozent – beträgt der Aufpreis für die seit 1973 erhältliche Langversion. Auch das verhilft ihr zu einer Exklusivität, die sich auf 40 Exemplare beschränkt. Nur dieser wurde zum Staatsbesuch beflaggt (die Standarte des US-Präsidenten trägt das Motto „E pluribus unum“ („Aus vielen eines“, falls Sie am Pool etwas humanistische Bildung nachschieben wollen). Vom 26. bis 28. Juli wird Gerald Ford im Diplomat durchs Land chauffiert, dann fliegt er weiter. Der Diplomat aber bleibt.

Opel Diplomat V8, Exterieur
Hans-Dieter Seufert

Hätte der große Schriftsteller F. Scott Fitzgerald recht, könnte nach solch einem Höhepunkt alles danach nur noch einen Abstieg darstellen. In einem großen Moment hängen zu bleiben, kann ja die aussichtsreichsten Karrieren erschüttern (ja, Herr Götze, dabei denken wir auch an Sie). Ein wenig passt das ja zu Opel – mehr noch zu dem dauernden Gewese, dass da früher alles besser, größer, prächtiger gewesen sei. Im Fall des Diplomat B stimmt das ja, mit ihm stellt Opel 1977 auch die Oberklasse-Ambitionen ein – fast genau vier Jahrzehnte nachdem der erste Kapitän sie begründete. Der Diplomat reihte sich dabei in zwei Generationen ab 1964 als Hochrangigster in die KAD-Linie ein und hielt die Stellung, nachdem Kapitän und Admiral 1970 und 1976 absalutierten.

Block and Roll

Vielleicht aber gehen Opels Topmodelle einfach, solange das noch in Würde gelingt, denken wir uns, als der Tag noch Nacht ist und wir uns in der Tiefgarage treffen. In fahlem Neonlicht ragt der Diplomat über die Bucht hinaus – dabei sind unsere Parkplätze durchaus geübt im Umgang mit raumgreifenden Autos. Mit ihren 5,05 Metern hat die Limousine jedenfalls Mitte der 1970er zwischen all den C-Kadetts, Einser-Gölfen und Zweier-Escorts durchaus das Format eines Straßenkreuzers und ist als V8 das alleramerikanischste Auto aus deutscher Produktion. Unter der Haube röchelt die 327er-Version des GM-Small-Blocks, welche auch so illustre Kraftwagen wie Chevrolet Corvette, Avanti II oder Holden Monaro antreibt. Mit dem stets reichlich durchfluteten Rochester-Quadrajet-Doppel-Registervergaser bringt es der V8 im Opel auf 230 PS und 43,5 Meterkilogramm – macht 426 Nm.

Einsteigen, im Blauplüsch der Velourssessel versinken, anschnallen. Der Motor startet auf den ersten Schlüsseldreh, lässt die Motorhaube kurz erzittern und – oder bilden wir uns das ein? – das Neonlicht flackern. Wählhebel auf „D“, Fuß vom breiten Bremspedal, der Diplomat rollt sacht an. Das leise Stakkato des Leerlaufs echot zwischen den Wänden, als wir versuchen, uns mit dem Opel nicht zwischen den Pfeilern zu verheddern. Er gleitet zum Rolltor hinauf, und das scheint sich heute besonders eilfertig aufzuwickeln, um der Limousine den Weg freizumachen – aus der Dunkelheit in die morgengraue Stadt, dann auf der Autobahn in den Tag – und nach Hockenheim.

Opel Diplomat V8, Motor
Hans-Dieter Seufert

Nach aktuellen Maßstäben ist der lange Diplomat kein auffallend großes Auto, ein Insignia Sports Tourer etwa misst nur fünf Zentimeter weniger in der Länge. Doch der Diplomat hat nicht einfach eine besondere Größe, sondern außergewöhnlich viel Format, eine Präsenz, die sich nicht über Abmessungen, Motorleistung oder Geschwindigkeit definiert.

Er ist ein selbstsicherer Wagen. Klingt seltsam? Erklärt aber, warum er in einer Liga mit der Mercedes S-Klasse spielt und sein Nachfolger, der Senator, nicht mehr. Jemand mag die plüschig-amerikanische Art des Diplomat nicht? Na, dann eben nicht. Ihm doch egal – und Opel damals auch. Man kann ja nie in Führung gehen, wenn man anderen und dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Geschmacks hinterherrennt. Der Diplomat B dagegen ist damals ganz weit vorn – nun, vielleicht auf einer anderen Spur als die Konkurrenten, aber auf seiner eigenen eben.

Jetzt schunkelt er über die A 6, die sich im frühen Licht nach Westen hügelt. Schon seit der Autobahnauffahrt tourt er mit Achtelkraft in der dritten Stufe der GM-Dreigangautomatik mit dem schönen Namen TH 400 Turbo-Hydramatic. Dramatic! Viel zu schalten gibt es nicht, keineswegs nur aus Mangel an einer breiten Auswahl an Gangstufen, sondern auch aus Überfluss an Drehmoment. Es ist die Abgrundtiefe von 5,4 Litern Hubraum, aus welcher der 90-Grad-V8 schöpft. Steigungen können ihn nicht aus seiner tieftourigen Entspanntheit reißen. Auch darin zeigt sich der Charakter eines überlegenen Wagens: nie den Eindruck von Anstrengung aufkommen lassen, nichts macht mächtiger als Machtreserven.

Während der Motor den Wagen beinahe nebensächlich auf Richttempo hält, engagiert sich die Kraftstoffpumpe ungleich intensiver, wie wir in Hockenheim an der Tankstelle feststellen können. Gut 30 Liter Super Plus gluckern in den Tank, ein Schuss Bleiersatz, noch waschen und trocknen – dann rüber ins Motodrom.

Standart-Messprogramm

Opel Diplomat V8, Interieur
Hans-Dieter Seufert

Da gilt es, dem Protokoll zu folgen. Also flaggen wir vor dem Wiegen auf, schrauben die Standartenhalter samt unserem Emblem an die Kotflügel. Denn von Weitem haben wir gesehen, dass die Kollegen von sport auto in der Boxengasse mit einem 911 herumzinnobern. Da paradieren wir doch mal mit dem aufgetakelten Diplomat vorbei, um einen guten Morgen zu wünschen. Ja gut, etwas Wichtigtuerei ist auch dabei, als wir dem Wagen entsteigen, den Jungs kurz zunicken, um den Testtag zeremoniell zu eröffnen: „Möge das Messen beginnen!“

Erst vermaßen wir den Innenraum, was etwa so langer Metermaße bedarf, als wollte man den Bauplan des Weißen Hauses erstellen. Anschließend nehmen wir den Wendekreis, verkabeln endlich die Messelektronik, fahren auf die Strecke. Dort stellen wir gleich fest, dass der Tacho unbescheiden anzeigt und der Schalldruckmesser dem Wagen ein ebenso stattliches wie variantenreiches Geräuschportfolio attestiert.

Nun in die Auslaufzone der Spitzkehre, wo der Startpunkt für die Beschleunigungsmessung liegt. Otto drückt den linken Fuß auf die Bremse, den rechten aufs Gas, der V8 faucht, der Diplomat ruckt mit dem Heck, zuckt mit dem Bug. Fuß vom Gas und loooo…, ähm. So richtig los geht es nicht, der Diplomat schrubbt ausführlich mit den Hinterrädern, raspelt sich voran, als die Reifen endlich Grip finden. Noch mal, mit weniger Gas. Wobei es sehr wenig sein muss, um die Traktionsreserven der 14-Zoll-Räder nicht zu überfordern.

Opel Diplomat V8, Exterieur
Hans-Dieter Seufert

So legt der Diplomat gediegen ab, strebt die Strecke entlang. Ein Weilchen nach dem Aufbruch ruckt die zweite Gangstufe ein, die fast für den ganzen weiteren Verlauf der Beschleunigung genügen soll. Elf Sekunden nach dem Start erlangt der Wagen 100 km/h. Was zeigt, dass Zahlen nur Werte sind, aber nicht zeigen können, mit welch aufbrausendem Temperament der Opel fährt. Dem gewonnenen Tempo begegnet die Bremsanlage mit vier Scheiben und einer Zurückhaltung, welche die Ausgangsgeschwindigkeit in umso größerer Rasanz in Erinnerung lässt.

Ähnliches gelingt Lenkung und Fahrwerk beim Slalom. Wegen der indirekten Übersetzung der servo-strotzenden, rückmeldungskeuschen Lenkung kurbelt Otto am Steuer, als gälte es, ein Frachtschiff ins Parkhaus zu rangieren. Dennoch kommt er mit dem Lenken kaum hinterher, gerade wenn das Heck mal kurz wegwischt. So vergeht die Zeit wie im Flug und erscheint viel kürzer, als es die Lichtschrankenmessung später zeigt.

Wie immer, wenn zu uns ein „Alter im Test“ kommt, geht es gar nicht darum, neue Bestzeiten aufzustellen. Sondern das Beste der alten Zeiten zu feiern. Als wir mit dem Opel zurückfahren, senkt sich schon die Dämmerung über die Hügel. Die Sonne, die sich gerade hinter die Wälder duckt, mag heute nicht heller gestrahlt haben als im Juli 1975. Aber der Moment von damals wirkt ja weiter. Der Diplomat ist noch immer ein Botschafter für Opel. Und überhaupt dafür, was möglich ist, wenn man sich traut, einen eigenen Weg zu gehen. Hinter dem Horizont, der gleich am Ende der Motorhaube des Diplomat beginnt, da geht der weiter.