Nach über 20 Jahren und Tausenden Runden meine ich eigentlich, die Nordschleife wie im Schlaf zu kennen, doch für den schnellen Eifel-Ritt im Mercedes-AMG GT 63 S E Performance klebt mir die Mannschaft aus Affalterbach eine Nordschleifen-Streckenskizze aufs Armaturenbrett. Nein, auf dem DIN-A4-Zettel finden sich keine neuen Ideallinientipps, sondern die E-Boost-Strategie für die Supertest-Runde mit dem ersten Performance-Hybrid von AMG.
Warum der Supertest das Thema Elektrifizierung bisher nur leicht gestreichelt hat? Weil ernst zu nehmende Elektro-Sportwagen, die auch eine Runde Nordschleife überstehen, noch Mangelware sind. Auch die Hersteller tun sich noch schwer, sich der Herausforderung des Supertests mit einem Elektrofahrzeug zu stellen.Obwohl beispielsweise Porsche ja bereits selbst eine offizielle Rekordrunde am Ring gefahren ist, haben sie den jüngst für den Supertest angefragten Taycan Turbo S abgesagt – zu aufwendig sei das Prozedere derzeit im Supertest umzusetzen.
Während der erste "Vollelektro-Supertest" noch ein bisschen auf sich warten lässt, widmen wir uns heute der Hybridtechnik – der vermeintlichen Übergangstechnik ins vermeintlich voll elektrifizierte Zeitalter. Nach dem Porsche 918 Spyder und dem Honda NSX ist der Mercedes-AMG GT 63 S E Performance erst das dritte teilelektrifizierte Fahrzeug überhaupt, das sich dem Supertest stellt.
843 PS: stärkster Serien-AMG

AMG kombiniert dabei den bereits aus dem X-290-Vorgängermodell bekannten Vierliter-V8-Biturbo mit 639 PS mit einem permanenterregten Synchron-Elektromotor im Heck. Die Kombination aus Verbrenner und Elektromaschine gipfelt in einer Systemleistung von 843 PS und einem maximalen Systemdrehmoment von bis zu 1470 Nm. Damit kürt sich der GT 63 S E Performance zum bis dato stärksten Serienfahrzeug von AMG.
Beim GT 63 S E Performance handelt es sich um einen sogenannten P3-Hybrid, das heißt: um einen Hybrid mit Elektromotor hinter dem Getriebe. Hier sind Elektromotor und Verbrennungsmotor komplett voneinander getrennt, wirken aber auf die gleiche Antriebswelle beziehungsweise die gleiche Antriebsachse. Der 150 kW (204 PS) starke Elektromotor sitzt beim GT 63 S E Performance an der Hinterachse und ist dort mit einem elektrisch geschalteten Zweiganggetriebe sowie dem elektronisch gesteuerten Hinterachs-Sperrdifferenzial in einer Electric Drive Unit (EDU) integriert.
Die Lithium-Ionen-Batterie ist ebenfalls im Heck, über der Hinterachse, positioniert und auf schnelle Leistungsabgabe sowie -aufnahme ausgelegt. "Die Batterie musste die Leistung bringen, leicht sein und die Energie für eine Runde Nordschleife haben", erklärt Sebastian Liendo, Fahrdynamik- und Simulationsentwickler bei AMG, vorab die Anforderungen an den Energiespeicher.
Auch wenn der GT 63 S E Performance nicht als Reichweiten-Plug-in konzipiert wurde, sondern die Hybridtechnik bewusst "nur" als Performance-Support nutzt, kann er immerhin zwölf Kilometer und bis zu 130 km/h rein elektrisch fahren. Ein lautlos und rein elektrisch fahrender AMG sorgt später im Wohngebiet noch für Staunen – angesichts der prognostizierten Zukunft liegt die Betonung auf "noch". Fühlt sich gar nicht so schlecht an, wenn man morgens nicht die Nachbarschaft aus dem Schlaf V8-brabbelt.
Vor der Nordschleifen-Runde gibt’s ebenfalls ein surreales Bild: Das viertürige Limousinen-Schlachtschiff steht im AMG-Entwicklungszentrum in Meuspath mit Heizdecken auf einer Hebebühne, während ein Ladekabel hinter der geöffneten Plug-in-Ladeklappe der Heckschürze am dortigen Anschluss angedockt ist und den GT 63 S lädt. Im Kombi-Instrument finden sich jetzt zwei Balkendiagramme, eines für die Tankanzeige und eines für den Ladestatus der Batterie.
252 Kilo mehr als der Vorgänger

Stichwort Laden: Der Race-Modus schärft nicht nur sämtliche Fahrzeug-Parameter für maximal mögliche Fahrdynamik, sondern lädt die Batterie bei niedriger Leistungsanforderung auch schnell nach. Die Anfahrt zum Ring verläuft dementsprechend im Race-Modus, damit es mit voller Batterie auf die Schleife geht.
Der Verbrenner-Elektro-Punch trifft dann auf ein sattes Gewicht von 2358 Kilo – ein Mehrgewicht von 252 Kilo verglichen mit dem bisherigen GT 63 S ohne Hybridtechnik. Aus Sportfahrersicht ist es nur ein schwacher Trost, dass AMG die in Eigenregie entwickelte High-Performance-Batterie (6,1 kWh) für ihr geringes Gewicht von 89 Kilo feiert. Immerhin.
Zum Vergleich: Die 17,9-kWh-Batterie eines Porsche Panamera Turbo S E-Hybrid wiegt 133 Kilo. Diese verleiht dem AMG-Kontrahenten aber dank 50 Kilometern rein elektrischer Reichweite auch ein E-Kennzeichen, das der AMG nicht tragen darf.
Zur zentralen Herausforderung im Sportwagensegment wird in puncto E-Technik der Kampf gegen das hohe Gewicht. Unter uns: Vom Prinzip her hat so ein fülliger Koffer wie der GT 63 S eigentlich nichts auf einer Rennstrecke verloren. "Das Ziel unserer Autos ist immer: Die Nordschleife muss das Auto können. Daraufhin optimieren wir die Systeme", sagt Demian Schaffert, AMG-Fahrdynamikentwickler, der 2020 mit dem GT-63-S-Vorgängermodell den bis heute gültigen Nordschleifen-Rekord für Oberklasse-Fahrzeuge aufgestellt hat. Entwicklungsziel des E Performance war es natürlich, dass der Wagen auf der Schleife etwas schneller als sein Vorgänger mit reiner Verbrennertechnik ist. AMG spricht von einer Sekunde auf der Nordschleife, also nicht viel angesichts des ganzen Aufwands.

Ehrlich gesagt war ich angesichts der Masse äußerst skeptisch vor der Runde, doch was der GT 63 S E Performance dann in seiner Gewichtsklasse für ein Fahrdynamik-Feuerwerk auf der Nordschleife abbrennt, ist mehr als erstaunlich. Nicht nur dank der gripfreudigen Semislicks vom Typ Michelin Pilot Sport Cup 2 MO1 – es sei dahingestellt, ob jemals ein Kunde diesen Optionsreifen ordern wird – lenkt die Power-Limo auf der Nordschleife beeindruckend präzise ein und bleibt mit gut ausbalancierter Fahrwerksabstimmung über den gesamten Kurvenverlauf weitgehend fahrstabil. So geht Fahrbarkeit.
Spätestens auf der Bremse kann jedoch auch der E Performance sein hohes Gewicht nicht verheimlichen. Auch wenn die serienmäßige Keramikbremsanlage die Nordschleifen-Runde standfest absolviert, fällt sie mit durchschnittlicher Dosierbarkeit auf. Pedaldruck und Pedalweg der Bremse variieren: mal etwas teigig lang, dann wieder härter und kürzer. In puncto Pedalrückmeldung fühlte sich die Bremsanlage des Hybrid-freien GT-63-S-Vorgängers definierter an.
204 PS Extra Boost

Jetzt aber zum Highlight – der Boost-Funktion. Rausbeschleunigen aus der überhöhten Hocheichen-Linkskurve in Richtung Quiddelbacher Höhe. Sobald die Vorderräder des GT 63 S E Performance nach dem Kurvenverlauf wieder gerade stehen, heißt es zum ersten Mal boosten. Im Fahrprogramm Race wird die elektrische Leistung per Kick-down-Funktion abgerufen.
Vom rot-weißen Curb auf der rechten Fahrbahnseite bis über die Brücke und weiter bis auf Höhe des Holzhäuschens des Postens 77, wenn die Strecke in Richtung Flugplatz wieder ansteigt, bleibt das Fahrpedal bis zum Anschlag durchgedrückt. Auf der Streckenskizze, die bei mir im Cockpit hängt, ist diese erste Boostphase mit 330 Metern und über sechs Sekunden minutiös ausgerechnet.
Kein Witz, bis zu dieser ersten Boostphase habe ich das Fahrpedal im Hatzenbach nicht voll, sondern maximal bis zur Kick-down-Schwelle des Pedalweges durchgedrückt. Fahrpedalweg bis zur Kick-down-Schwelle bedeutet, dass im Race-Programm "nur" die Verbrennerleistung abgerufen wird. Wird das Pedal vollständig durchgetreten, schaltet sich die E-Maschine hinzu. In der Entwicklungsphase hatte sich AMG gegen einen Boostknopf am Lenkrad und für die Integration der Boost-Aktivierung ins Fahrpedal entschieden. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase lässt sich die zusätzliche Elektro-Po- wer über den rechten Fuß auch im Grenzbereich sehr gut abrufen.
Die Extraleistung von bis zu 150 kW – also umgerechnet 204 PS – setzt deutlich spürbar und E-Motor-typisch ansatzlos ein. Das verhilft der Power-Limousine im Alltag nicht nur zu einer Sprintdominanz, die früher reinrassigen Sportwagen vorbehalten war, sondern filtert subjektiv auch das letzte bisschen Turboloch weg.
Um den Boost auf der Rennstrecke für eine schnelle Rundenzeit zu nutzen, soll idealerweise erst geboostet werden, wenn der Kurvenverlauf abgeschlossen ist und kein Lenkwinkel mehr anliegt. Boostet man früher, keilt der GT 63 S E Performance auch schon mal mit Leistungsübersteuern aus und der Vortrieb verpufft etwas. Bei zunehmendem Schlupf an der Hinterachse überträgt der vollvariable Allradantrieb die Antriebskraft des Elektromotors für mehr Traktion auch teils auf die Vorderräder.
Zwölf Boostsektoren am Ring

Jenes Leistungsübersteuern kann jedoch auch produktiv genutzt werden, wenn die Power-Limousine beispielsweise beim Herausbeschleunigen am Adenauer Forst leicht ins Untersteuern drängen will. Zack, Boost kurz vor Ende des Kurvenverlaufs einsetzen, und der GT 63 S dreht sich unter Last leicht gierend ein und richtet sich perfekt für den weiteren Ideallinienverlauf aus.
Zwölf Boostsektoren hat mir AMG mit auf die Nordschleifenrunde gegeben. Anders formuliert: eine ganz neue Art des Schnellfahrens. Neben Anbrems- und Einlenkpunkten muss man sich jetzt auch noch besagte Boostabschnitte merken. Das bedarf einer ganz anderen Vorbereitung auf die schnelle Supertest-Runde als bei einem Fahrzeug, das dauerhaft mit Volllast bewegt werden kann. Per Videostudium mithilfe der Rekordrunde des GT-63-Vorgängermodells und Zählen der Sekunden der einzelnen Boostphasen erarbeite ich mir neue Anhaltspunkte, von wann bis wann ungefähr geboostet wird.
Die weiteren Boostsektoren? Neun Sekunden (520 m) von Ausgang Flugplatz bis in die Senke Richtung Schwedenkreuz, acht Sekunden (384 m) von Ausgang Aremberg bis zum Sechs-Kilometer-Schild rechts in der Fuchsröhre, sieben Sekunden (303 m) von Ausgang Adenauer Forst bis zur prägnanten Kiefer bei Posten 101 auf der linken Seite bei der Anfahrt aufs Metzgesfeld, acht Sekunden (366 m) von Ex-Mühle bis Einlenken Lauda-Knick, sieben Sekunden (326 m) von Bergwerk bis Kesselchen, dann hinter dem schnellen Kesselchen-Linksknick für fünf Sekunden (352 m) bis zum Zwölf-Kilometer-Schild, Ausgang Steilstrecke für drei Sekunden (121 m), Ausgang Karussell für sechs Sekunden (218 m), ab Hohe Acht für zwei Sekunden (91 m), ab Eiskurve für vier Sekunden (136 m) und abschließend ab Galgenkopf für 25 Sekunden (1765 m) auf der Döttinger Höhe.
Eine Runde Vollboost nicht möglich

Warum es keinen Sinn macht, die Streckenpassagen, auf denen man normalerweise Volllast fährt, dauerhaft durchzuboosten? "Wir haben zwei Themen, mit denen wir haushalten müssen. Das eine ist die Kapazität der Batterie. Die Batterie hat außerdem einen Selbstschutz für die Alterung der Zellen. Das Batterie-Management lässt nicht zu, dass die Batterie länger als zehn Sekunden die volle Leistung abgibt – auch wenn mit der Temperatur alles picobello aussieht", hatte Sebastian Liendo vorab erklärt. Ab Mitte der Döttinger Höhe sinkt die Leistung der E-Maschine daher auch von der Spitzenleistung 150 kW auf die Dauerleistung 70 kW.
Damit ich es glaube, zeigt mir AMG-Simulationsguru Liendo eine Nordschleifen-Simulation mit zwei GT 63 S E Performance, die virtuell gegeneinander mit unterschiedlichen Boost-Strategien antreten – ein weißes Fahrzeug, das immer, also quasi dauerhaft, boostet, und ein rotes Fahrzeug, das mit meiner Zwölf-Sektoren-Boost-Strategie unterwegs ist. Spätestens auf der Döttinger Höhe bricht der "Dauerbooster", der 20,6 Megajoule auf der Runde verbraucht hat, ein und der Wagen mit meiner Boost-Strategie (12,1 Megajoule pro Runde) hat die Nase vorn.
Und wie schnell ist der GT 63 S E Performance jetzt auf der Schleife? Sauschnell für seine Gewichtsklasse. Mit 7.28,02 Minuten absolviert er die Nordschleife so fix wie einst der Porsche 991.1 GT3 RS in Supertest 8/2015. Respekt, AMG!
Und es wäre sogar noch mehr gegangen: Sowohl auf der Nordschleife als auch in Hockenheim schaltete sich das deaktivierte ESP auf dem Weg zu einer neuen Bestzeit jeweils zweimal wieder ein, wenn ein motiviertes querdynamisches Fahrmanöver durchgeführt wurde. In Hockenheim war es das harte Überfahren von Curbs, auf der Nordschleife ein motivierter Schwimmwinkel aus Adenauer Forst und Hoher Acht. Anschließend vermeldete der GT 63 S E Performance jeweils eine Störung der Hinterachslenkung.
Kein Drama, schließlich ist der GT 63 S E Performance in erster Linie als Alltagsbegleiter und nicht als Tracktool zu verstehen. Als Technologieträger gibt er einen nicht unspannenden Ausblick auf die E-Performance-Idee von AMG, die man sich gut auch in einem reinrassigen Sportwagen vorstellen kann.
Mercedes AMG GT 63 S E Performance S | |
Grundpreis | 199.016 € |
Außenmaße | 5054 x 1953 x 1447 mm |
Kofferraumvolumen | 335 bis 1198 l |
Hubraum / Motor | 3982 cm³ / 8-Zylinder |
Leistung | 470 kW / 639 PS bei 5500 U/min |
Höchstgeschwindigkeit | 316 km/h |
0-100 km/h | 3,0 s |
Verbrauch | 13,5 l/100 km |