Lamborghini Huracán LP 610-4 im Supertest

Lamborghini Huracán LP 610-4 im Supertest
Nordschleife mit Sorgenfalten bei der Bremsmessung

Inhalt von

Zitat Anfang: „Artenschutz umfasst den Schutz und die Pflege bestimmter wild lebender Arten durch den Menschen, entweder aufgrund ethischer oder ästhetischer Prinzipien oder aufgrund ökologisch begründeter Erkenntnisse.“ Zitat Ende. Dass Wikipedia-Einträge nicht immer ganz vollständig sein müssen, zeigt auch der Eintrag zum Thema Artenschutz – oder warum findet sich hier kein Sterbenswörtchen über den Lamborghini Huracán LP 610-4?

V10 weckt die Nachbarschaft

Angesichts der verstärkt über die Sportwagenwelt hereinbrechenden Turbowelle müsste eine Spezies wie der italienische Mittelmotorsportler sofort auf die „Rote Liste gefährdeter Arten“ gesetzt werden. Auf Startknopfdrücken folgt Gänsehautfaktor hoch zehn. Lamborghini-typisch „longitudinale posteriore“ (daher das LP in der Typenbezeichnung) thront er da im Heck, der längs hinten verbaute 90-Grad-V10 mit 5,2 Litern Hubraum.

Der Aufschrei beim Kaltstart morgens um sieben dient als Kollektivwecker für die Nachbarschaft. Einfach herrlich, wenn die charakteristische Melodie des mit wechselnden Abständen von 54 und 90 Grad zündenden V10 durch die Klappenabgasanlage trompetet. Hier musst du keine Sekunde wie bei so manchem Turbo nachdenken, ob den Akustikern künstlich ein guter Klang gelungen ist.

Nicht nur aus emotionaler Sicht bleibt zu hoffen, dass Lamborghini seiner bei der Huracán-Präsentation 2014 verkündeten Philosophie „One Car, one Engine“ – „Ein Auto, ein Motor“ und damit auch dem Saugmotorkonzept – noch etwas länger treu bleibt. Die Turbophilosophie für kommende Baureihen wird aber auch in Sant'Agata nicht mehr kategorisch ausgeschlossen.

Entspanntes Dahinschlendern im Stadtverkehr

Angesichts des immer seltener werdenden Motorenkonzepts fällt mal wieder auf, wie entspannt sich so ein Saugmotor fahren lässt. Der Lambo-V10 übermannt dich trotz seiner Nennleistung von 610 PS nicht mit all seiner Kraft wie so manches Biturbo-Drehmomentmonster. Entspannt Dahinschlendern im Stadtverkehr? Kein Problem, dank gut abgestimmter Gasannahme und dem Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe, hier LDF (Lamborghini Doppia Frizione) genannt, das seine Gänge im Automatikmodus ohne Ruckeln wechselt. Kopfnicken beim Gangwechsel? Die ausgedehnten Schaltpausen des E-Gear-Getriebes des Vorgängers Gallardo geraten im Automatikmodus des Huracán vollständig in Vergessenheit. Seit Modelljahr 2016 kann der Direkteinspritzer sogar mit Zylinderabschaltung cruisen. Bei äußerst zahmer Gangart schaltet der Lambo dann unmerklich fünf seiner zehn Zylinder kurzzeitig ab.

Klingt fast so, als ob der Huracán ein Softie geworden wäre. Von wegen: Schon beim Einfädeln in die optionalen Carbon-Vollschalensitze spielt der Lambo motiviert den Puristen. Im Vergleich zu den elektrisch verstellbaren Ledersitzen sparen die manuell verstellbaren und nur mit einer dünnen Alcantarahaut überspannten Schalen 25 Kilo ein. Okay, in den puristischen Sitzschalen bekommen wohl selbst Size-Zero-Models aus Mailand irgendwann Druckstellen, für den Sportausflug auf die Rennstrecke sollten die Sitze mit gutem Seitenhalt aber an Bord sein.

Nicht nur die knackigen Stühle, sondern auch das Multifunktionslenkrad verbreitet Rennwagenambiente. Sämtliche relevanten Funktionen liegen in Daumenreichweite. Vor allem die Fernlichttaste zaubert ein Schmunzeln ins Gesicht – fehlt eigentlich nur noch eine blinkende Highbeam-Programmierung wie beim Aufblendlicht des Huracán-GT3-Rennwagens. Eine der wichtigsten Funktionen trägt aber der am unteren Lenkradkranz positionierte Schalter, über den das Fahrdynamiksystem Anima (italienisch: Seele bzw. Abkürzung für Adaptive Network Intelligent Management) angesteuert wird. Zur Wahl stehen die Modi Strada, Sport und Corsa.

Huracán in 2,9 Sekunden auf 100 km/h

Klick, klick, klick – der Strada-Modus hat Feierabend, auf geht's im Corsa-Modus. Außer dem nun noch zackigeren Ansprechverhalten wechselt der V10 auch seine Stimmlage. In das heiser-metallische Konzert mischt sich jetzt noch ein dunkel grollender Bass sowie ein aggressives Bollern bei Gaswegnahme. Ein traumhafter, ungefilterter Saugmotorsound, der schwer nach Rennwagen klingt!

Im Corsa-Modus wechselt außerdem nicht nur das Getriebe seine Gänge noch schneller, es bereitet sich und den Allradantrieb auch auf einen Launch-Control-Start vor. Bremse treten, Vollgas, Bremse lösen – der bei Lamborghini sogenannte „Thrust Mode“ regelt die Anfahrdrehzahl auf 4.250/min ein und katapultiert den Huracán im Supertest anschließend motiviert, aber mit leichtem Schlupf an der Hinterachse vom Fleck. In diesem Fall verteilt der variable Allradantrieb mit hydraulisch gesteuerter Lamellenkupplung blitzschnell bis zu 50 Prozent des Antriebsmoments auf die Vorderachse. Unter normalen Fahrzuständen leitet der Allrad circa 30 Prozent der Antriebskraft an die Vorderachse. Die Allradauslegung ist also tendenziell heckbetont.

Während des Launch-Control-Starts vollführt die Drehzahlnadel angesichts der euphorischen Drehfreude des V10 ein beeindruckendes Schauspiel auf dem nun komplett digitalen Kombi-Instrument. Das Getriebe schaltet im Launch-Modus automatisch hoch. Erster Gang bis 8.000/min gedreht, zweiter, dritter, vierter Gang bis jeweils 8.250, fünfter Gang bis 7.250 – und schon ist die Beschleunigungsdisziplin bis 200 km/h mit Bravour abgehakt. Oder in Zahlen: 2,9 Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100 und 9,3 Sekunden bis 200 km/h. Damit unterbietet der Lamborghini Huracán LP 610-4 in der Lackierung „Grigio Lynx“ die Versprechen ab Werk sogar deutlich (Werksangaben: 0 – 100 km/h 3,2 s, 0 – 200 km/h 9,9 s).

Lamborghini Huracán LP 610-4, Heckansicht
Achim Hartmann

Wertvolle Zeit auf der Bremse verschenkt

Leichte Sorgenfalten entstehen erst bei der Bremsmessung. Der Mittelmotorsportler mit serienmäßiger Keramikbremsanlage stoppt aus 100 km/h zwar nach vergleichsweise guten 32,9 Metern, doch das ABS fällt dabei mit einer unharmonischen Regelfrequenz auf. Szenenwechsel, aber gleiche Baustelle. Anbremsen auf der Start-Ziel-Geraden des Hockenheimrings aus 219 km/h. Das ABS regelt hier in der Anbremszone nicht nur mit unharmonischen Regeleingriffen. Wer auf „letzter Rille“ ins ABS bremst, dem macht der Huracán mit verhärtendem Bremspedalgefühl und verminderter Verzögerungsleistung das Leben schwer. Dabei schiebt er merklich über die Vorderachse. Statt spät in die Kurve reinzubremsen, sollte der Bremspunkt im Grenzbereich lieber etwas früher gelegt werden. Dadurch verschenkt der Mittelmotorsportler auf der Bremse wertvolle Zehntelsekunden.

Das Problem: Die ABS-Abstimmung ist nur ungenügend auf das sehr gute Gripniveau der optionalen Sportbereifung vom Typ Pirelli P Zero Trofeo R adaptiert worden. Während der schon etwas länger zurückliegenden Entwicklungsphase des Huracán gab es den aktuell genutzten Optionsreifen noch gar nicht. Große Teile der Entwicklung wurden mit dem Standardreifen P Zero und dem bisherigen Optionsreifen P Zero Corsa absolviert.

Trotz dieser Bremsthematik zaubert der italienische Mittelmotorsportler und krönt sich zum bisher schnellsten Serien-Lamborghini auf dem Kleinen Kurs von Hockenheim. Mit einer Rundenzeit von 1.07,5 Minuten lässt er hier die bisherige Lambo-Speerspitze Aventador (1.08,6 min) und auch den Gallardo Superleggera (1.09,2 min) klar hinter sich. Nur die Supersportler Porsche 918 (1.06,3 min) und Gumpert Apollo (1.07,2 min) waren im Supertest hier bisher schneller. Der Huracán sichert sich in der ewigen Supertest-Bestenliste von Hockenheim Rang drei.

Den Grundstein für die schnelle Rundenzeit auf dem kleinen Kurs legt das insgesamt einfach beherrschbare Fahrverhalten. Mit der optionalen Trofeo-Bereifung punktet der Huracán mit besserem Einlenkverhalten als sein Plattformverwandter Audi R8 V10 Plus. Der Lamborghini fühlt sich insgesamt nicht nur leichtfüßiger an, er ist es auch. Der Supertest-Huracán wiegt genau 71 Kilo weniger als das Supertest-Pendant R8 V10 Plus (siehe sport auto 10/2015).

Wenn das ABS nicht wäre …

Im Corsa-Modus liefert die optionale LDS-Lenkung (Lamborghini Dynamic Steering) sportlich straffere Haltkräfte als im Strada-Modus. Mit ihrer etwas stößigen Art – beispielsweise beim Überfahren von Curbs – wirkt die Lenkung ehrlich und nicht synthetisch. Insgesamt punktet sie mit einer präzisen, aber nicht zu überspitzten Rückmeldung um die Mittellage. Während die serienmäßige elektromechanische Servolenkung über eine feste Lenkübersetzung von 16,2 : 1 verfügt, kann die LDS-Lenkung ihr Übersetzungsverhältnis zwischen 9 : 1 und 17 : 1 variieren.

Unter Last bleibt der Huracán im Grenzbereich lange neutral und überzeugt mit beeindruckender Traktion. Auf Lastwechsel reagiert er weitgehend stabil und gutmütig fahrbar. Währenddessen setzt das Doppelkupplungsgetriebe im manuellen Modus jeden Zug an den Schaltwippen spontan um – entweder mit blitzschnellen Hochschaltungen oder automatischen Zwischengassalven beim Runterschalten. Anders als die kurzen Miniaturexemplare im Gallardo wurden die fest stehenden Schaltwippen im Huracán länger und damit besser erreichbar konstruiert. Nackenschläge oder Ausfallschritte des Hecks beim Hochschalten wie bei den ruppig zu Werke gehenden sequenziellen Getrieben von Gallardo und Aventador sind hier ebenso Vergangenheit.

Und was passiert, wenn der Huracán auf eine dritte Dimension trifft? Wir wechseln von dem nahezu topfebenen Hockenheimring auf die topografisch anspruchsvolle Nordschleife. Und während man sich die ersten Meter gen Hatzenbachbogen runterstürzt, verliebt man sich gleich wieder auf ein Neues in das feiernde Saugmotor-Kunstwerk im Rücken. Die feine Dosierbarkeit und die lineare Kraftentfaltung überfordern auch auf der Nordschleife nicht, sondern sorgen in puncto Fahrbarkeit fast für einen angenehmen Wohlfühleffekt am Limit. Auch für die Traktion unter Last und das insgesamt weitgehend neutrale Fahrverhalten gibt's auf der Nordschleife Pluspunkte.

Das komplette Gegenteil ist dann jedoch beim Anbremsen der Fall. Wie zu vermuten war, verdaut die dürftige Abstimmung des ABS auf die Trofeo-Reifen die Nordschleifen-Bodenwellen so gut wie gar nicht. Eigentlich muss man auf der Nordschleife ja eher selten komplett bis ins ABS bremsen, doch die Lambo-Regelelektronik setzt auch bei geringem Bremsdruck teilweise extrem früh ein.

In 7:28 Minuten über die Nordschleife

Nicht nur subjektiv steht dann manchmal beim Anbremsen ein Rad an der Vorderachse ganz leicht, auch das Reifenbild und leichte Vibrationen bestätigen nach den ersten Testrunden die Vermutung. Neben einer anderen ABS-Abstimmung wünscht man sich, wie in einem Rennwagen, einen Drehknopf im Cockpit, um die frontlastige Bremsbalance etwas nach hinten zu verschieben. Die Abstimmung des ABS auf die Cupreifen ist den Audi-Kollegen besser gelungen. Auf der Bremse ist der R8 – nicht nur am Ring – leichter fahrbar.

Nach der phänomenalen Hockenheim-Rundenzeit müsste der Huracán theoretisch ja eigentlich auf der Nordschleife wesentlich schneller als der R8 sein. Eigentlich. Dass es im Ziel aber mit einer Rundenzeit von 7.28 Minuten „nur“ vier Sekunden Vorsprung geworden sind, liegt neben der beschriebenen ABS-Bremsproblematik unter anderem auch an der Fahrwerksabstimmung und Aerodynamik (siehe Kasten „Windkanal“) des Lamborghini. Während die Flugphasen und Landungen im R8 auf und nach Sprungkuppen kalkulierbar ablaufen, wird es im Huracán an dem ein oder anderen Streckenabschnitt – nennen wir es mal – interessant.

Lamborghini Huracán LP 610-4, Draufsicht
Hans-Dieter Seufert

Neben der geringeren Aero hat auch die Fahrwerksabstimmung des Optionsfahrwerks MagneRide mit elektromagnetischer Dämpferregelung einen Anteil daran. Das Adaptivfahrwerk wirkt im Vergleich zu dem statischen Fahrwerk des Supertest-R8 deutlich straffer. Gut für Hockenheim, nicht ganz so optimal für die Nordschleife. Nach überfahrenen Curbs setzte sich beispielsweise der R8 wieder schneller und bleibt ruhiger als der Huracán.

Highlight unter den Nordschleifen-Pulsbeschleunigern im Huracán ist die Kuppe vor dem Schwedenkreuz, die mit knapp 270 km/h „voll“ überfahren werden kann. Während die Lambo-Vorderachse subjektiv am Boden bleibt, hebelt die Kuppe jedoch die Hinterachse gefühlt um einen Meter aus. Ganz so hoch war das Heck natürlich in Wirklichkeit nicht in der Luft, doch am Lenkrad sollte bei diesem Manöver nicht der kleinste Lenkwinkel anliegen, ansonsten versetzt der Lambo bei der Landung.

Doch bei Lamborghini arbeiten sie bereits wieder an Punkten wie ABS-Abstimmung und Aerodynamik – die Entwicklung der extremeren Superleggera-Variante des Huracán läuft derzeit auf Hochtouren. Und spätestens dann geht der Artenschutz des emotionalen Hochdrehzahl-Saugers in eine neue Runde.

TECHNIK-SPOTLIGHT

Neben dem Antriebsstrang mit dem V10 und dem Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe teilen sich der aktuelle Audi R8 und der Lamborghini Huracán unter anderem das in einer Hybridbauweise aus Aluminium und Verbundwerkstoffen gemeinsam entwickelte Chassis (MSS-Plattform: Modular Sportscar System). Der Vorder- und Hinterwagen sowie die Achsaufnahmen bestehen hauptsächlich aus Aluminium, während ein Teil der Fahrgastzelle (Teile der Bodengruppe und der Seitenschweller, der Mitteltunnel, die hintere Trennwand sowie die B-Säulen) aus CFK gefertigt wird. Das Gewicht des auch für den Huracán bei Audi in Neckarsulm gebauten Hybridchassis liegt bei knapp 200 Kilogramm. Erstaunlich: Obwohl sich der aktuelle R8 und der Huracán das identische Chassis teilen, liegt das Gesamtgewicht des Huracán deutlich unterhalb dem des R8. Mit 1.564 Kilogramm wiegt der Supertest-Huracán 71 Kilo weniger als der Audi R8 V10 Plus, der in sport auto 10/2015 zum Supertest angetreten ist.

Technische Daten
Lamborghini Huracán LP 610-4 Coupé
Grundpreis201.824 €
Außenmaße4459 x 1924 x 1165 mm
Kofferraumvolumen100 l
Hubraum / Motor5204 cm³ / 10-Zylinder
Leistung449 kW / 610 PS bei 8250 U/min
Höchstgeschwindigkeit325 km/h
0-100 km/h2,9 s
Verbrauch12,5 l/100 km