Geschichtsträchtig, bejubelt, ausgeflippt, exklusivste Teilnahmebedingungen, Italien im Ausnahmezustand – ja, die Mille Miglia eben, Mutter aller Autorennen, wenn man so will. Klar haben Sie über die von Brescia bis Rom und wieder zurückführende Oldtimer-Rallye schon viel gelesen. Beispielsweise, dass es für die meisten Klassik-Enthusiasten ein unerfüllter Lebenstraum bleibt, hier mitzufahren. Und sicher ist das nicht der erste Erfahrungsbericht über das Event, doch als Redakteur mit italienischen Wurzeln auf den beiden Etappen bis zur Hauptstadt am Start zu sein: für mich persönlich etwas ganz, ganz Großes.
Noch aufregender ist die Tatsache, dass ich zum einen mit Marcus Breitschwerdt, Head of Mercedes-Benz Heritage, in einem Mercedes Supersport (1930) aus der Vorkriegszeit sitze. Zum anderen, dass ich auch mit dem eingeschworenen Entwicklungsteam der Reichweitenrekord-Elektroflunder Vision EQXX durch meine zweite Heimat stromere. Mercedes hat das futuristische Aerodynamik-Wunder neben Klassikern wie dem Supersport oder 300 SL (1955) nämlich auch mit in Italien dabei – zur Teilnahme an der seit 2019 bestehenden Mille Miglia Green, einer Extra-Wertung für E-Autos. Die gewinnt im Windschatten der Oldtimer-Rallye nach und nach an Bedeutung, wozu das Mercedes-Werksteam durch seine erste Teilnahme einiges beiträgt.
EQXX als Elektro-Botschafter
Etwa, um neue Reichweitenrekorde zu jagen? Fehlanzeige. 1.200 Kilometer non-stop nach Silverstone im Juni 2022 waren ja eh Effizienz-Ansage genug. "Die Mille Miglia steht dafür, Menschen zu begeistern. Das sehen wir auch als unsere Verantwortung – gerade in Bezug auf Nachhaltigkeit und Elektrifizierung. Daher passt die Teilnahme unseres vollelektrischen Effizienz-Champions Vision EQXX hier hervorragend rein", erklärt Eileen Böhme, bei Mercedes tätig als Director Strategy, Innovations & Future Technologies R&D.
Nun, da es mit der E-Mobilität in Italien zwecks mangelnder Ladeinfrastruktur noch nicht so weit her ist, erscheint es sinnvoll, dass der Vision EQXX seine Mission hier fortsetzt – mit mir als Roadbook-bewaffnetem Co-Piloten und E-Drive System Engineer Special Projects Julien Pillas am Steuer. Er hat im Versuchsfahrzeug bis zum Prototypenstatus schon endlose Kilometer runtergerissen.

Zurück in die Zukunft
Umso besorgniserregender seine erste Bemerkung mir gegenüber im Cockpit: "Mist, so hat es hier drin noch nie gerochen." Kleiner Witz am Rande, versteht sich, weil die alten Eisen beim Sammelpunkt vor dem Start in Brescia auch schon anbollern. Von Motorengebrüll, Abgasgeruch und Benzinduft bleibt hier keiner verschont. Schwer zu beschreiben, dieses Gefühl. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im spacig-sterilen Vision EQXX und hauen sich ein Halluzinogen rein, das Ihnen einen nostalgischen Trip in die Jahre des ursprünglichen Straßenrennens zwischen 1927 und 1957 verpasst. Und dann knallen da oben die Frecce Tricolori, eine Kunstflugstaffel der italienischen Luftwaffe, vorbei und färben den Himmel mit grün-weiß-roten Rauchschwaden ein. Irre!

Eindrücke erstmal sacken lassen? Denkste. "Volle Konzentration aufs Roadbook", lautet die Devise. Das ist nicht ohne, denn die Routen-Angaben folgen dicht aufeinander. Oft beträgt die Distanz zur nächsten Abzweigung wenige hundert Meter. Selbst wenn die Organisatoren die Strecke teils ausschildern, bleibt man besser bei der Sache, um im Zweifel Bescheid zu wissen, wo es lang geht. Vor allem, weil Vision-EQXX-Antriebsingenieur Pillas oft damit beschäftigt ist, den Elektro-Reichweitenkönig behutsam um Unebenheiten und Schlaglöcher herum zu manövrieren. Es ist schließlich ein Einzelstück, dessen Entwicklungskosten wohl besser der Mantel des Schweigens deckt. Schäden riskieren? Bloß nicht.
Strammer Mille-Zeitplan
Nicht zuletzt deshalb passieren wir die Zeitnahmestellen leicht verspätet. Aber selbst ohne erhöhte Vorsicht müssen es Mille-Miglia-Teilnehmer knattern lassen – egal ob bei der klassischen oder der grünen Variante. Die Straßenverkehrsordnung? Offiziell gilt es die zu beachten, es geht seit der Neuauflage der Mille Miglia im Jahr 1977 schließlich um eine Gleichmäßigkeitsfahrt, anstatt um ein Rennen. Aber ernsthaft: Entweder man gibt zwischen den Ortschaften richtig Stoff oder schlängelt sich keck durch den Verkehr, ansonsten haut das nicht hin. Denn spätestens bei den sogenannten Schlauchprüfungen – dabei muss man vorgegebene Streckenabschnitte in einer bestimmten Zeit absolvieren – staut es sich teils sowieso.

Viel beäugtes Effizienz-Wunder
Seinen Wahnsinns-cW-Wert von 1,7 kann der EQXX bei der Mille Miglia Green entsprechend gar nicht richtig ausspielen. Trotzdem beläuft sich der Verbrauch des 244 PS starken Stromers zwischenzeitlich auf nur 8,6 kWh/100 km, was mich mindestens so beeindruckt wie das Erscheinungsbild des EQXX die Zuschauermassen an der Strecke. Und es wundert schon ein bisschen, dass sie das Auto meist beklatschen, auch wenn man hier und da mal einen nach unten gereckten Daumen erspäht. Na ja, Petrol Heads und so. Und Hand aufs Herz: Während man am See entlang durchs malerische Desenzano del Garda, vorbei an Monumenten wie der Arena von Verona oder ans Tagesziel, der schönen Piazza Trento Trieste in Ferrara, stromert, gerät das durch jubelnde Massen schnell in Vergessenheit.
Und letztlich geht es ja genau darum: genießen! Auch an Tag zwei, denn da steht der Umstieg ins Vorkriegsmodell an. Mercedes Supersport, Jahrgang 1930, damals schon mit Kickdown-Technologie, nur 111 gebaute Exemplare – wild! Und eine ganz andere Hausnummer, ohne Dach beim Lärmpegel des 7,2 Liter großen aufschreienden 200-PS-Sechszylinders das Roadbook im Blick zu halten, die Navigationsangaben indes an Mercedes-Klassik-Chef Breitschwerdt durchzugeben – mit ordentlich Luft hinter der Stimme, damit er dich am Steuer versteht. Denn wie Vision-EQXX-Pilot Pillas ist auch er voll ausgelastet. Nicht etwa aufgrund einer behutsamen Fahrt, im Gegenteil, Breitschwerdt nimmt den Supersport ganz schön ran. Kann man manchen, wir reden hier ja von einem Sportwagen.

Elefanten-Ritt im Mercedes Supersport
Genauer gesagt vom Vorgänger-Modell des Supersport Kurz (SSK), der die Mille Miglia im Jahr 1931 gewann. "Damals waren deutsche Rennfahrzeuge meist weiß lackiert. Deshalb nannte man die Autos 'weiße Elefanten'. Nicht etwa, weil sie so groß und wuchtig sind, sondern aufgrund des trompetenden Geräuschs, das beim Einsetzen des Kompressors ertönt, sobald das Gaspedal voll durchgetreten wird", erklärt Breitschwerdt. Dann tritt er das mittlere Pedal durch – ja, das Mittlere, denn die Pedal-Anordnung von Gas und Bremse ist hier noch andersrum – und "Vrhröööhnm" stürmt der in diesem Fall rote Elefant impulsiv nach vorne.
Nur blöd, dass es den auch wieder zu bremsen gilt. "Diese Fahrzeuge waren die schnellsten ihrer Zeit. Die Fahrleistungen sind auch heute noch beeindruckend, aber es ist eben auch eine gewaltige Maschine und die träge Masse dadurch groß.", so Breitschwerdt. Heißt: In jeder Situation vorausschauend fahren. Und ich muss mich noch intensiver aufs Roadbook konzentrieren. Falsch abbiegen? An sich kein Drama, aber da geht halt Zeit drauf. Und Nerven. Gerade, wenn man das Ungetüm wenden muss. Auch enge Kehren sind durch den langen Radstand kein Spaß. Wie bei der Auffahrt zur Piazza della Libertà von San Marino. Eine aberwitzige Szene! Breitschwerdt, ein Streckenposten, ich selbst – alle drei haben die Hände am Lenkrad, um das schwergängige Volant beim Rangieren zu kurbeln, weil der Supersport ungünstig in der Kurve steht. Weniger kräftezehrend, dafür konzentrations- und koordinationsfordernd: das Schalten des nicht synchronisierten Viergang-Getriebes. Ohne gekonnt dosiertes Zwischengas geht da gar nichts.

Etappen-Endspurt
Alles in allem trifft es sich gar nicht schlecht, dass wenig später beim Tankstopp – gezapft wird übrigens E-Fuel, wodurch auch die klassische Mille ihren grünen Touch kriegt – ein heftiger Regenschauer mal für Abkühlung sorgt. Mehr oder weniger. Frieren ist jedenfalls kein Thema. Auch nicht während der Fahrt, zumal der Supersport vom Motorraum immense Wärme abstrahlt.
Und spätestens als der Etappen-Endspurt am fortgeschrittenen Abend durch Rom führt, verdunstet auch das letzte bisschen Feuchtigkeit aus unseren zwischenzeitlich durchnässten Jacken. Denn es geht mit Tempo 80 durchs Stadtgebiet. In einem Benz aus 1930 und das noch bei Nacht. Das fühlt sich an wie ein Mix aus Fast & Furious und altem Mafia-Film. Nur, dass einen die Polizei nicht jagt, sondern mit Blaulicht am Verkehr vorbei eskortiert. Einfach nur verrückt – und ein krönender Abschluss der sozusagen zweiten einmaligen Erfahrung innerhalb von zwei Tagen.

Das muss ich ehrlich gesagt erstmal sacken lassen. Im Gegensatz zu Mercedes-Klassik-Leiter Breitschwerdt, der die restlichen Mille-Etappen noch mitnimmt und klarstellt: "Durch die Teilnahme sowohl bei der Mille Miglia als auch bei der Mille Miglia Green machen wir deutlich, was das Erbe unseres Unternehmens ist: nämlich der ständige Pioniergeist und herausragende Durchbruchslösungen zu jeder Zeit und in jeder Epoche zu finden." Nur logisch also, dass Vision-EQXX-Antriebsingenieur Pillas auch den Reichweiten-Champion zurück bis nach Brescia pilotiert, um mit seinem Entwicklungsteam die Elektro-Botschafter-Mission fortzuführen. Für mich als Navigator und Aushilfsitaliener bei Verständigungsschwierigkeiten heißt es nach rund 800 Kilometern jedoch: Mission erfüllt.