Es gibt einen Grund, wieso Sie aus dem Stand eine Senseo-Kaffeemaschine bedienen können, beim Nissan Micra aber 30 Sekunden brauchen um zu identifizieren, wo die Fond-Tür geöffnet wird. Gutes Design ist nicht bloß "schön", gutes Design "funktioniert". Im Zweifel kann gutes Design, wenn wir jetzt mal ein bisschen dramatisch werden wollen, über Leben und Tod entscheiden. Beispiel gefällig? Wäre das weltweit bekannte Leitsystem für Notausgänge nicht so klar und auch in Paniksituationen einfach verständlich – es gäbe noch mehr Tragödien in der Tagesschau zu vermelden.
Ganz so existenziell wollen wir jetzt aber gar nicht werden, sondern uns anschauen, wie es sich mit der Automobilbranche verhält. Heruntergebrochen auf die Basis, hat sich in den letzten 30 Jahren nicht viel im Bereich des Automobil-Designs getan. Eine Haube mit Kühlergrill, dahinter das Greenhouse mit zwei oder vier Türen. Lediglich die Heck-Gestaltung macht ganz frech das Segment aus, wenn wir ehrlich sind. Lassen Sie mal ein Kind ein Auto zeichnen – sie werden das Ergebnis so gut wie jeder Marke zuordnen können.

Große Flächen dekorieren
Lutz Fügener, Studiengangsleiter Transportation Design an der FH Pforzheim formuliert es so: "Mittlerweile wurde alles an Formen innerhalb der gängigen Fahrzeugsegmente ausprobiert. Anstatt etwas Neues zu kreieren, haben die Designer dann die zur Verfügung stehenden Flächen unterschiedlich bespielt und ausgestaltet – doch auch das ist mittlerweile erschöpft. Deshalb wird das Design jetzt klarer und richtet sich endlich mal wieder neu aus. Ich merke das an den Autos von Polestar, dem Honda e, dem Mercedes EQS , oder dem Ioniq 5 von Hyundai."
In der Tat fällt es, gerade durch den SUV-Boom, spürbar auf: Die Autos haben sich nicht verändert, sie wurden im Wesentlichen nur immer größer. Und nachdem ein Hersteller seinen SUV weit genug aufgeblasen hat, ist es am Designer, die so entstandenen riesigen Flächen zu dekorieren. Dafür kommen derzeit gerne große Schriftzüge und ausladende Kühlergrills zum Einsatz. Doch der zunehmende Wandel hin zu alternativen Antriebskonzepten macht ein Umdenken erforderlich. Unter anderem hat das bei Audis Chefdesigner Marc Lichte bereits stattgefunden.

Das Interieur wird zum Herzstück
"Je geringer der Luftwiderstand, desto größer die Reichweite: Dieses physikalische Grundgesetz der Elektromobilität haben wir beim e-tron GT zum Gestaltungsprinzip gemacht. Die Form folgt der Funktion, Ästhetik erwächst aus Effizienz. Die neue Formensprache sorgt für einen stärkeren Fluss und ermöglicht dadurch eine ausgefeilte Aerodynamik. Damit bildet die Gestaltung des E-Tron GT die Grundlage für das Design zukünftiger Elektro-Modelle", erklärt Lichte.
Im Wandel hin zu alternativen Antriebsmodellen, besonders der Elektromobilität, sieht Lichte nicht weniger als "die Chance, die schönsten Autos zu gestalten, die es jemals gab". Der mit technologischen Umbrüchen einhergehenden Transformation des Automobildesigns will man sich in Ingolstadt also keineswegs erwehren – im Gegenteil. Allerdings kommt noch eine konzeptionelle Komponente hinzu, denn Marc Lichte und sein Team wollen das Auto künftig von innen nach außen gestalten und nicht mehr umgekehrt, wie er uns verraten hat. "Das Auto entwickelt sich zusehends zu einem Lebensraum. Und die wichtigste Frage wird sein, wie der Passagier die gewonnene Zeit für sich nutzen kann. Das Interieur wird somit zukünftig das Herzstück, in welchem der Nutzer neue Freiheiten erlebt." Dieser Ansatz wird uns später nochmal begegnen.
Mit Traditionen brechen
Form follows function (Form folgt Funktion) ist wohl einer der am häufigsten zitierten Design-Grundsätze der Welt. Er wird dem US amerikanischen Architekten Louis Sullivan zugeschrieben, der als geistiger Vater der Hochhäuser gilt. Später machte die Kunstschule Bauhaus das Prinzip zu einem Leitsatz ihrer Gestaltung. Doch nur weil Grundsätze historisch gewachsen sind, bedeutet das nicht automatisch, dass eine Veränderung ausgeschlossen ist. "Seiner DNA treu bleiben" ist im Prinzip ja ein Euphemismus für "nichts Neues wagen". Der Golf wäre ein Beispiel dafür. Allerdings wird er als ur-deutscher Bestseller auch einem sehr konservativen Anspruch an das Auto gerecht. Da gibt es gerade in der Bundesrepublik einen breiten Flügel.

Die Design-Revolution ist trotzdem längst in vollem Gange, meint Kevin Rice, Chefdesigner bei Pininfarina. Ob das überhaupt notwendig und richtig sei, fragen wir. "Nun, du kannst die Schlacht erst beurteilen, nachdem sie geschlagen ist. Während du mittendrin steckst, ist es immer erstmal unangenehm. Aber mit technologischen Umbrüchen geht auch ein Ruck durch das Design – und aktuell sind wir ja in einem riesigen Umbruch."
Vor diesem Hintergrund ist es spannend, kurz zurückzuschauen – denn da fällt auf, dass es auch Einzelaspekte sein können, die eine ganze Design-Epoche beeinflussen. So standen die Zeichen seit dem Ölpreisschock der 1970er ganz auf Aerodynamik – um der Effizienz willen. Die daraus resultierenden Autos kamen im Folgejahrzehnt mehrheitlich mit scharfen Linien und klaren Abrisskanten daher. Plötzlich schien es kein anderes Thema mehr zu geben als Aerodynamik und so ging auch die entsprechende Forschung mit großen Schritten voran. Die Ingenieure erkannten bald, dass im richtigen Arrangement auch weiche und runde Formen gute Ergebnisse erzielen und das Straßenbild veränderte sich abermals. Marc Lichte formuliert es ganz passend: "Das Automobildesign ist ein Spiegelbild der Welt, in der wir leben – mit all ihren Möglichkeiten und Zwängen."

Sicken kommen nicht von ungefähr
Sie sehen also: Es sind auch Wirtschaftskrisen, technologische Fortschritte oder Erkenntnisse aus Randbereichen der automobilen Welt, die plötzlich globale Auswirkung auf die Gestaltung haben. Neue Fertigungsverfahren können Design ebenso beeinflussen. Seit moderne Maschinen Werkstoffe hochpräzise biegen und formen, haben Autos eine Menge Sicken. Sobald den Designern produktionstechnisch neue Möglichkeiten eröffnet werden, ändern sich auch die Entwürfe.
"Die größte Transformation der letzten Zeit hat im Interieur stattgefunden. Dort sehen wir jetzt riesige Bildschirm-Flächen, konventionelle Tasten und Schalter verschwinden. Diesen Wandel wollte man entsprechend auf das Exterieur übertragen, deshalb sind schmale LED-Bänder und aufwändige Lichtgrafiken heute so en vouge. Sie sollen die Technologisierung der Autos illustrieren", erklärt Rice. Obwohl der Trend seiner Meinung nach bereits wieder rückläufig ist. "Mittlerweile hat die Überdosis Displays dazu geführt, dass wir schon von 'Screen Detox' sprechen. Hier setzen sich immer mehr smarte Lösungen wie animierte Head-Up-Displays durch, die dem Fahrer situativ selektierte Informationen als Destillat ausspielen, anstatt ein Füllhorn von Informationen im Cockpit auszukippen."

Weg vom Drei-Box-Design
Im Gespräch mit Mercedes-Designchef Gordon Wagener bestätigt sich die These von Kevin Rice – zumindest teilweise – anhand eines hochaktuellen Beispiels. "Wir haben den EQS quasi um unser Bedienungssystem MBUX gestaltet. Das Interieur entstand um den Hyperscreen herum und das Exterieur dann um das Interieur herum", fasst Wagener den Entstehungsprozess des neusten Elektromodells von Mercedes zusammen. Vom obligatorischen Drei-Box-Design der gängigen Oberklasse-Limousinen konnte sich Mercedes somit lösen.
Ein Umstand, der auch Design-Professor Lutz Fügener auf Anhieb positiv aufgefallen ist: "Wenn Sie die A-Säule des EQS optisch verlängern, landen Sie an einem Punkt, der vor den Vorderrädern liegt. So etwas hat es schon lange nicht mehr gegeben." Offiziell nennt Mercedes diese Form "One-Bow-Design", ihr Debüt durfte sie schon mit dem Concept Car F015 auf der Tech-Messe CES 2015 in Las Vegas geben. "Mit unseren Showcars und den daraus resultierenden Serienmodellen waren wir in den letzten Jahren immer wieder sozusagen 'vor der Welle'. Mittlerweile sehe ich zum Beispiel viele E-Auto-Showcars in unserem One-Bow-Stil, aber das nehmen wir als Kompliment", stellt Wagener fest.

Provokation muss sein
Heiß diskutiert wurden in der jüngsten Vergangenheit aber vor allem plakative Details – zumindest in der breiten Auto-Fangemeinde. Sie ahnen schon, wovon die Rede ist: BMW vergrößerte die charakteristische Niere an der Fahrzeugfront einiger Modelle drastisch. Für das neue Gesicht ist Kernmarken-Designchef Domagoj Dukec verantwortlich, und er wundert sich nicht wirklich über die losgetretene Diskussion: "BMW ist eine Marke, die mehr Fans als Kunden hat und das bringt natürlich reichlich Emotionen ins Spiel. Genau diese Emotionalität wollen wir auch haben und dafür muss man nicht immer nur schön, sondern manchmal eben charakterstark sein. Als Marke für unkonventionelles Anti-Establishment wählen wir dieses Mittel häufiger – ich möchte da nur an den X6 erinnern, der üblicherweise sehr geliebt oder eben nicht geliebt wird. Dazwischen gibt es eigentlich nichts."
Ganz einfach gesagt, braucht es die Provokation. Nur was polarisiert bleibt auch wirklich im Gedächtnis – die BMW-Niere ist eines der besten Beispiele. Doch es hat auch produktionstechnische Gründe, warum Hersteller so etwas tun. "Wir haben die Front des neuen 4ers bewusst sehr mutig entworfen. Es geht ja darum, ein Auto über den gesamten mehrjährigen Produktzyklus hinweg modern und attraktiv zu halten und das gelingt dir nur, wenn der erste Sprung weit genug reicht", erläutert Dukec die Beweggründe.

Licht ist das neue Chrom
Dass die Nachhaltigkeit heute in der Welt der Mobilität eine der ersten Geigen spielt, ist kein Geheimnis. Natürlich ist es auch Aufgabe des Designs, diesen Anspruch nach außen zu transportieren. Mit blubberndem Sportwagen-Motor vor der Eisdiele zu halten erfreut sich heute weniger sozialer Akzeptanz als noch vor 20 Jahren. "Zunächst haben die Hersteller noch versucht, Sportwagen-Performance in eine andere Gestalt zu hüllen. Steckt der V8 in einer Kombi-Karosse, ist es plötzlich wieder okay", erinnert sich Kevin Rice. Mittlerweile ist aber auch dieser Trick durchschaut – die Hersteller müssen sich schon mehr einfallen lassen.
So spielt heute nicht nur die Technik, sondern auch die Materialauswahl selbst eine ökologisch relevante Rolle. "Man könnte sagen, dass Licht das neue Chrom ist", meint Domagoj Dukec. "Chrom ist ja kein umweltfreundliches Produkt, aber es hat einen gewissen ästhetischen Reiz. Diesen Job erledigen jetzt beispielsweise dynamisch animierte Lichtgrafiken, die heute viele Hersteller zur Profilierung der eigenen Marke nutzen."
Fakt ist: Schöne Autos wird es immer geben – was sich ändert ist das, was wir als "schön" verstehen. Für die Hersteller bleibt es interessant, denn auch das progressivste Alleinstellungsmerkmal relativiert sich irgendwann selbst. Jeder muss immer wieder die Lücke suchen, sich positionieren und damit den jeweiligen Fokus vorgeben. Egal ob Luxus, Technologie, Sportlichkeit oder reines Transportmittel. Dass wir den Fortschritt nicht als Revolution begreifen, liegt an den fließenden Übergängen. Den Umbruch bemerken wir erst, wenn wir mit einigen Jahren Abstand auf die aktuelle Entwicklung zurückblicken. Dafür können Sie übrigens dann die Fotoshow oben im Artikel benutzen, denn dort finden Sie die aktuellen Designerstücke.