Ein Land befindet sich im Ausnahmezustand. Wenn die Mille Miglia von Brescia nach Rom und wieder zurück düst, werden nicht nur Hunderttausende von Fans mobilisiert, sondern für drei Tage auch die Verkehrsregeln ausgehebelt: Die Rallye hat Vorfahrt. An roten Ampeln geht man allenfalls kurz vom Gas.
Und die Polizei? Die mischt kräftig mit. Ein Heer von Polizisten auf Motorrädern begleitet die Rallye mit Blaulicht und Signalhorn. Ist die Straße verstopft, wird eine dritte Rallye-Spur aufgemacht – auch wenn da eigentlich kein Platz ist. Die blauen Helfer stehen dann auf den Fußrasten, dirigieren ihre Maschinen artistisch mit den Oberschenkeln und jagen den Gegenverkehr mit den Armen zur Seite. Es ist großer Sport. Nicht nur die Rallye, sondern vor allem der Auftritt der italienischen Polizei.
Wenn keine Fans mehr am Straßenrand zu sehen sind, hat man sich verfahren
378 Oldtimer und Hunderttausende von begeisterten Zuschauern. Bei der Mille Miglia kann man sich eigentlich nicht verfahren. Die einfachste Navigations- Regel: Wenn einmal keine Zuschauer am Streckenrand jubeln, dann sollte man "bitte wenden".
Der Andrang der Fans hat aber auch gewisse Nachteile. Wenn man berühmt ist, dann kennen Italiener keine Gnade. Komiker und Auto-Fan Rowan Atkinson sollte den Fan-Rummel eigentlich gewohnt sein. Aber schon in der Startaufstellung wurde er genervt: Die Fans wollten Fotos, Autogramme und, schlimmer noch, den wahren "Mister Bean" einmal anfassen. In der Not wurde "Mister Bean" aus seinem BMW 328 Roadster in ein Coupé umgesetzt, was allerdings auch nur für Minuten Abhilfe schuf. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich in Italien so viele Fans habe", stöhnte der Star. Damit er bei den Mittagspausen wenigstens etwas essen konnte, platzierte man einen Mechaniker im BMW. Das brave Double musste sogar Autogramme schreiben. Die Fans ließen sich allerdings nur kurz ablenken. Wenige Minuten später ertönten nahe seinem Tisch "Mister Bean"-Sprechchöre. Atkinson ließ sich breitschlagen, gab artig Autogramme – und handelte sich von einem Youngster sofort eine Reklamation ein: Er wolle kein Atkinson-Autogramm, sondern gefälligst eins von "Mister Bean".
Hans-Joachim Stuck, Bernd Schneider und Mika Häkkinen ganz entspannt
Andere Stars reisten da etwas entspannter. Beispielsweise Schauspieler Thomas Heinze, der mit VW-Kommunikationschef Stefan Grühsem im Porsche 550 Spyder fuhr. Oder Jürgen Prochnow, der in einem Aston Martin DB2 saß. Auch deutsche Renn-Legenden wie Hans-Joachim Stuck, Klaus Ludwig, Bernd Schneider und Roland Asch fuhren quasi inkognito. Mika Häkkinen zeigte dagegen, dass ein ehemaliger Formel 1-Champion durchaus die Massen begeistern kann.
Auch der rote Mercedes Super Sport von Jochen Mass war an jedem Kontrollpunkt und bei jeder Ortsdurchfahrt von einem Menschen-Knäuel umgeben. Das Interesse galt allerdings weniger dem deutschen Ex-Formel 1-Fahrer, sondern eher seinem prominenten Mitstreiter: Auf dem Beifahrer-Sitz saß "Ago Nazionale", wie sie Agostini, den mehrfachen italienischen Motorrad-Weltmeister, in Italien ehrfurchtsvoll nennen. Das Team wurde quasi auf einer Applaus-Woge durchs Land getragen, wenn man das von einem 2,5 Tonnen schweren Mercedes SS behaupten kann.
Noch unauffälliger fuhr eine andere Art von Hochkarätern. Die Automobilindustrie hat die Veranstaltung längst als wichtiges Marketing-Instrument entdeckt. Die klassische Mille von 1927 bis 1957 war eher eine Domäne der italienischen Autobauer: Alfa Romeo hat elf Mal gewonnen. Ferrari brachte es auf acht Siege. Mercedes fuhr mit Caracciola und Moss zwei Mal an die Spitze, BMW siegte mit Huschke von Hanstein ein Mal. Heute hat sich das Kräfteverhältnis etwas verschoben. Alfa Romeo fährt nur noch mit zwei Werksautos. Ferrari bestreitet mit modernen Autos quasi das Vorprogramm. Im Oldtimer-Feld aber bilden BMW, Mercedes und der VW-Konzern mit Porsche, VW, Audi, Bugatti und Bentley eine starke Phalanx.
Hohe Vorstansdichte von Brescia bis Rom
Wie wichtig die Hersteller die Mille nehmen, zeigt die Vorstandsdichte, die allenfalls von einer IAA getoppt wird. Mercedes schickte Entwicklungsvorstand Thomas Weber, Vertriebschef Joachim Schmidt und Personalchef Wilfried Porth. Für Volkswagen waren Finanzvorstand Arno Antlitz und Kommunikationschef Grühsem am Start. Der Ex-Porsche-Chef und jetzige VW-Produktionsvorstand Michael Macht kam politisch korrekt: mit einem VW Käfer mit Porsche-Motor, mit dem einst der deutsche Privatfahrer Paul-Ernst Strähle in Italien für Aufsehen gesorgt hatte. Sein Nachfolger bei Porsche, Matthias Müller, pilotierte einen Porsche 550 Spyder.
Im BMW 328 fuhr Rolls-Royce-Boss Torsten Müller-Ötvös. Im Bentley Blower reisten Ex-Bentley-Chef Franz-Josef Paefgen und sein Nachfolger Wolfgang Dürheimer. "Ich möchte dem Kollegen den Umgang mit historischen Automobilen näherbringen", erklärte Paefgen. Dürheimer, der bislang "eher auf der Rundstrecke unterwegs war", erkannte schnell: "Für die europäische Autoindustrie hat die Mille Miglia eine enorme Bedeutung. Als die Europäer hier schon Rennen gefahren sind, da waren die Asiaten noch zu Fuß unterwegs."
Saune-Feeling im BMW 328
Bentley hat nie bei der alten Mille gewonnen. Dies gilt auch für Jaguar. Markenchef Adrian Hallmark war trotzdem dabei: mit einem C-Type. Eine Aktion der besonderen Art startete BMW. Am Donnerstag hatten die Vorstände Klaus Draeger (Entwicklung), Ian Robertson (Vertrieb) und Herbert Diess (Einkauf) in München neben der Hauptversammlung noch eine Aufsichtsratssitzung zu überstehen. Danach ging es hastig in Richtung Flugzeug. In Verona warteten schon Motorradfahrer, die die Herren auf dem Sozius bis in die Startaufstellung chauffierten. Es war Maßarbeit: Klaus Draeger startete den Sechszylinder und rollte zur Startrampe.
Vorstände sind nicht nur pünktlich, sondern auch vorausschauend. Draeger hatte sich ein Kissen mitgebracht. Denn die Sitze im 328 Mille Miglia Roadster sind Rohrgestelle, die man spartanisch bespannt hat. Zwischen Sitzkissen und Lehne drückt eine Querstrebe ins Kreuz. Wer den Sitz überlebte, der wurde bei lebendigem Leib gegrillt. Ist der Sechszylinder einmal schön warm gefahren, strahlt er seine Hitze ungedämmt ins Cockpit. Alles wird glühend heiß. Und man ertappt sich immer wieder auf der Suche nach dem Schalter für die Heizung.
Schnelle Strecken, unzählige Kurven und gutgelaunte Zuschauer
Wird der gestressten Crew ein Wasser gereicht, sollte es sofort getrunken werden. Denn ist die Flasche im Fußraum verstaut, hat sie nach wenigen Metern die Cockpit-Temperatur angenommen. Egal. Der Sechszylinder klingt kernig. Und ab 1.500 Touren hängt er toll am Gas. Nach einigen Metern spürt man die Sitzstrebe nicht mehr. Und nach dem ersten Kurvengeschlängel scheint auch die Hitze im Cockpit verflogen.
Die Mille Miglia hat andere Reize – die schnellen Strecken Richtung San Marino, die Berge mit unzähligen Kurven Richtung Rom und die sanften Hügel in der Toskana. Dazu kommen die Durchfahrten der historischen Stadtkerne, die Begeisterung der Fans am Pistenrand – und die artistischen Einlagen der Motorrad-Polizisten. Normalerweise ist man dankbar, wenn einer dieser blauen Reiter von hinten naht, überholt und mit seinem Blaulicht den Stau pulverisiert. Aber auch ein erfahrender Mille-Starter konnte 2011 noch etwas dazulernen: Im Feld reiste ein russisches Team, das sich für die komplette Rallye einen eigenen Motorrad-Polizisten gechartert hatte.