Der grüne Flachmann wirkte auf dem diesjährigen Concorso d’Eleganza der Villa d’Este inmitten der herrschaftlich- glamourösen und männlich-sportlichen Automobil-Klassiker wie ein Fremdkörper. Vermutlich ermöglichte dem Mittelmotor-Streamliner von 1937 nur sein klangvoller Name den Zutritt in den elitären Zirkel der elegant und luxuriös karosserierten Bentley, Delahaye, Hispano-Suiza, Mercedes-Benz und Rolls-Royce: Alfa Romeo 6C 2300 Jankovits – so stand es im Katalog zum diesjährigen Treffen am Comer See.
Bastelarbeit eines verwirrten Bernd Rosemeyer -Fan?
Viel mehr als die reine, puristische Form seiner flachen Karosserie mit dem merkwürdig nach vorn gerückten, offenen Fahrerplatz konnte dieses eigenartige Gefährt für den Schönheitswettbewerb nicht beisteuern. Man entdeckt Parallelen zu den Auto Union Grand Prix- Rennwagen – doch dann irritieren den Betrachter wieder die von der Karosserie abgedeckten Räder und das dreisitzige Cockpit. Die Bastelarbeit eines verwirrten Bernd Rosemeyer-Fans oder der Sportwagen der Zukunft, der seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war?
Initiator des Mittelmotor-Projekts war Alfa Romeo-Chefkonstrukteur Vittorio Jano, der seit 1923 bei der Marke mit dem Kleeblatt arbeitete. Zu seinen erfolgreichen Schöpfungen zählten der Achtzylinder-GP-Racer P2 und die Sportwagen 6C 1750, 8C 2300 und 6C 2300. Nach den Siegen der Mittelmotor-Monoposto von Auto Union im Jahr 1934 dachte man auch in Portello bei Alfa Romeo daran, einen GP-Rennwagen mit identischem Layout zu kreieren. Italiens Staatschef Benito Mussolini wollte damit die schmachvolle Vormacht der deutschen Silberpfeile brechen.
Jano entschloss sich dazu, die Entwicklung eines Mittelmotor-Rennwagens aufzusplitten: Der V12-Motor sollte in Portello entstehen, die Arbeit am Chassis und an der Karosserie jedoch kreative Spezialisten übernehmen. Die fand Jano in den Brüdern Gino und Oscar Jankovits. Der Alfa-Mann, dessen Eltern aus Budapest stammten, war mit der Familie Jankovits befreundet. Sie handelten in Österreich-Ungarn unter anderem mit Import-Automobilen und -Motorrädern, die sie auch für Renneinsätze präparierten. Eine ihrer Werkstätten für Autos und zugleich für Boote befand sich in Fiume (heute Rijeka in Kroatien). Dorthin entsandte Jano bereits modifizierte Teile eines 6C 2300-Sportwagens: Chassis, Räder, Getriebe und einen erstmals mit drei Weber-Vergasern optimierten Sechszylindermotor mit 105 PS.
Expertenteam: Jankovits, Jano, Jaray
Die beiden Jankovits – Architekt Gino und Ingenieur Oscar -, die mit großem Interesse die technischen Entwicklungen im Motorsport verfolgten, machten sich Anfang 1935 daran, die aus Portello angelieferten Teile mit Fahrwerkskomponenten und einer Stromlinienkarosserie zu komplettieren. Dies geschah im regen Gedankenaustausch mit Alfa-Chefkonstrukteur Jano. Er ließ auch in Portello Fahrzeugteile anfertigen und nach Fiume schicken. Am Entwurf der Stromlinienkarosserie war maßgeblich Aerodynamik-Pionier Paul Jaray beteiligt. Ein Foto zeigt ihn und Jano bei Testfahrten mit dem noch nackten Rennwagen.
Die Gründe für das Outsourcing des Aerodinamica-Projekts waren vielfältig. Erstens wollte sich Jano auf die Arbeit am V12-Motor konzentrieren. Zudem lag ihm viel daran, auch einen revolutionären Sportwagen für den Einsatz bei der Mille Miglia oder in Le Mans zu erhalten: Der klare Auftrag für die Jankovits war der Bau eines Sportwagens mit Reserverad und mehrsitzigem Cockpit und nicht eines GP-Monoposto. Zu guter Letzt war dadurch die Tarnung für den eigentlich geplanten Grand-Prix-Renner perfekt.
Im Oktober 1937, zu dem Zeitpunkt, als der Prototyp vollendet war, wurde Jano von Alfa-Chef Ugo Gobbato gefeuert, nachdem Janos jüngster, konventionell konstruierter C12-Monoposto mit V12-Maschine Mussolinis Erwartungen nicht erfüllen konnte. Jano wechselte zu Lancia, und der Aerodinamica blieb in Fiume bei den Jankovits-Brüdern.
Unterm Schlagbaum hindurch: Filmreife Flucht nach Italien
Es gibt Informationen darüber, dass sie damit zunächst einige Rennen in Brünn, Budapest und Norditalien bestritten hätten, bis der Wagen im öffentlichen Straßenverkehr auftauchte. Die Jankovits versahen den Exoten mit einer großen, dreiteiligen Windschutzscheibe, mit Scheibenwischern, Stoßfängern, Hupe, Blinkern und Heizung – der erste Mittelmotor- Roadster der Welt.
Und mit was für hochkarätiger Technik! Typische Merkmale der Karosserie finden sich erst bei Sportwagen der Fünfziger wieder: zum Beispiel die rundliche Nase mit integrierten Scheinwerfern wie beim ersten Mercedes 300 SL oder das nach hinten zwischen den Radhäusern abfallende Heck des Porsche 550 Spyder. Keine Türgriffe oder Öffnungshebel beeinträchtigen die Luftströmung über die nur ein Meter hohe Karosserie mit verkleidetem Unterboden. Das hydraulische Zweikreis- Bremssystem wirkt auf Vorder- und Hinterachse; die Bremskraft für die Hinterachse ist vom Fahrer einstellbar.
Ein erstmals im Querformat eingebauter Frontkühler erlaubt eine flache Fahrzeugnase. Die hintere Pendelachse mit Querblattfeder wird durch Längslenker und zusätzlich montierte Drehstabfederung im Zaum gehalten; die Vorderachse besitzt Dreiecks-Querlenker.
Seinen spektakulärsten Auftritt hatte der Rennwagen in der Nacht vom 24. Dezember 1946. Fiume – nun Rijeka – gehörte inzwischen zum kommunistischen Yugoslawien, das sich daran machte, Privatbetriebe zu verstaatlichen und deren Besitzer als Kapitalisten zu brandmarken. Deshalb nutzten die Jankovits ihre Flunder als Fluchtfahrzeug in das freie Italien und durchbrachen oder besser: unterfuhren den geschlossenen Grenzschlagbaum. Die überraschten Wachposten feuerten mit ihren Kalaschnikows auf die Flüchtenden, trafen aber nur den Wagen. Während der Restaurierung fanden sich entsprechende Dellen in der zum Glück aus Stahl gefertigten Karosserie.
Turbulente Weltreise und dann Plakettenschwindel
Ein Zivilangestelter der US-Armee erstand den Roadster und schaffte ihn in die USA, wo er 1967 erstmals im „Vintage Car Store“ in Nyack, Bundesstaat New York, auftauchte. Der irische Alfa Romeo- Händler Malcolm Tempelton kaufte das Unikat und brachte es 1976 wieder nach Europa zurück. In einem Bericht des italienischen Automagazins Quattroruote von 1978 erkannte der legendäre Alfa Romeo-Chronist Luigi Fusi sofort den Jankovits-Spider wieder. Fusi arbeitete für Jano gerade zu der Zeit, als sich der Prototyp im Bau befand.
Fusi hatte noch immer Kontakt zu den Jankovits-Brüdern und unterrichtete sie über die Wiederentdeckung ihres Sportwagens. Der Alfa-Chronist nahm sogar Kontakt mit dem jetzigen Besitzer auf, weil die Jankovits ihren Renner zurückhaben wollten. Zu spät. Tempelton hatte das Einzelstück bereits an den britischen Sammler Neil Crabb verkauft. Nächster Besitzer wurde Phil Bennett in Leeds. Er lieh den Mittelmotor-Alfa an das National Motor Museum in Beaulieu, Sussex, aus. Dort wurde er zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert.
Doch Fusi ließ nicht locker und startete 1985 einen zweiten Versuch, den Aerodinamica zu erstehen, diesmal für das Alfa Romeo Museum. Sein Angebot war für Bennett jedoch zu niedrig. Immerhin hatte Fusi in der Zwischenzeit von den Jankovits zahlreiche Informationen und Fotos erhalten, welche die Geschichte des Wagens erhellten. Der Alfa-Chronist wollte damit die neueste Ausgabe seines Standardwerks „Tutte le Vettura dal 1910“ ergänzen, starb jedoch im Jahr 1997.
Nach erneutem Besitzerwechsel kehrte der Prototyp nach Italien zurück, wo die Karosserie eine hellblaue Metalliclackierung und Metallplaketten mit der Aufschrift „Graber Carossier Wichtrach Bern“ erhielt. Eine Verbindung zu den Schweizer Karosserie-Spezialisten bestand jedoch nie.
Die jüngste, vom aktuellen Besitzer veranlasste Restaurierung berücksichtigte erstmals die neu gewonnen Fakten und setzte den Aerodinamica in den Zustand von 1937 zurück, bevor er in einen Straßensportwagen verwandelt wurde. Dabei entdeckte man originale, dunkelgrüne Farbreste an der Motorabdeckung. Im Verbund mit dem in rotem Leder ausgekleideten Cockpit und den weiß lackierten Bremstrommeln ergeben sich die Nationalfarben Ungarns – und Italiens.
Eine glückliche Liaison, welche der Automobilwelt einen wirklich außergewöhnlichen Sportwagen bescherte.
Alfa Romeo 6C 2300 Aerodynamica Spider | |
Außenmaße | 4350 x 1700 x 1030 mm |
Hubraum / Motor | 2309 cm³ / 6-Zylinder |
Höchstgeschwindigkeit | 230 km/h |