Mercedes F-Cell World Drive Tag 55: Borat und die Philosophen

Mercedes F-Cell World Drive Tag 55
Borat und die Philosophen

Über Nacht hat es geregnet. Die Hauptstadt Astana, die übersetzt unglaublich kreativ "Hauptstadt" heißt, verabschiedet uns in Dunkelgrau. Das macht nichts, denn das vorgestern beschädigte Auto drei fährt wieder mit, und Technikerin Marie, die das Wiederaufbauprogramm leitete, macht ein sonniges Gesicht. Auch jenseits der Retortenmetropole scheint die Sonne, und zahllose Schäfchenwolken ziehen über den Himmel. Viele kriegen Heimatgefühle, denn die Strecke führt erstmals in Kasachstan über eine perfekte, dreispurige Autobahn, auf der uns jede Minute höchstens ein Auto begegnet. Geschwungene Hügel mit dichtem Kiefernbewuchs säumen die Strecke. "Sieht aus wie auf der A13 Richtung Berlin" findet Christian. Jürgen erkennt eher die A8 bei Ulm wieder. In jedem Fall sind sich alle einig, dass wir in der Heimat von so einem Verkehrsfluss nur träumen können. Selten ist eine Morgenetappe so zügig und ereignislos vorüber gezogen.

Nachdenken über Borat

Das gibt uns Zeit, ein Wort über den mit Abstand berühmtesten Kasachen zu verlieren, der nie einer war. Sascha Baron Cohen ist Engländer mit jüdischen Wurzeln. Bekannt wurde der Komiker im Fernsehen als Proleten-Rapper Ali G, weltweit populär als angeblich kasachischer Fernsehjournalist Borat, der zunächst sein vermeintliches Heimatland Kasachstan durch den Kakao zieht, um dann dreist und naiv mit Kamermann im Schlepptau Amerika zu erkunden, in einem verboten aussehenden Monokini sein Brusthaar in Kalifornien zur Schau zu stellen, bei einem Rodeo die amerikanische Nationalhymne so zu verballhornen, dass ein Pferd scheut und den Reiter zu Boden wirft, und vor dem schließlich Baywatch-Ikone Pamela Andersson schreiend durch einen Buchladen flieht.
 
Die Pseudodokumentation kam 2006 in die Kinos und wurde zum Kassenschlager. Angeblich stürmten in Deutschland einige verwegene Extremtouristen die Reisebüros, um den nächsten Urlaub in Borats Heimatland zu verbringen, dabei war Cohen niemals in Kasachstan. Er drehte den Anfang seines Films in einem rumänischen Roma-Dorf, das ihn prompt anschließend wegen Rufschädigung verklagte. In Kasachstan waren die Reaktionen zunächst verhalten, denn außer als Raubkopie war der Film hierzulande gar nicht zu sehen. Nichtsdestotrotz gab es am Ende diplomatische Verwicklungen wegen der Verunglimpfung des Landes Heimat, obwohl es in dem Film in Wahrheit um das Anprangern von Nationalismus und Rassismus in den Vereinigten Staaten geht.
 
Kasachstan war für Cohen deshalb so ein dankbares Opfer, weil die meisten Menschen schlicht nichts darüber wissen, nicht einmal seine geographische Lage. So war es ein Leichtes, der ehemaligen Sowjet-Republik wie auf einem weißen Blatt Papier mit seiner eigenen Handschrift eine gefälschte Identität zu verpassen.

Im Stuttgarter Buchladen war nur ein einziger Reiseführer über Kasachstan zu bekommen, der auch dem Thema Borat ein kleines Kapitel widmet. Selbstverständlich stellt die Autorin schon im ersten Satz unmissverständlich und absolut politisch korrekt klar: "Ich finde den Film scheußlich", gibt aber im Nachsatz zu: "Und doch muss ich oft über ihn nachdenken."

Klischees und Vorurteile

Laut nachgedacht wird auch in Wagen zwei. Weil die zwei Tage von Astana ins russische Chelyabinsk als Überführungsetappe gedacht sind, hat Ingenieur Jürgen Hohenadel im Auto Platz genommen. Außer auto motor und sport sind keine Medien dabei. Es wird schwer philosophiert über Klischees und Vorurteile, und wie sehr eine Weltreise dazu führen kann, lieb gewonnene Animositäten und Vorbehalte über Bord zu werfen.

Nehmen wir die Polizei, die selbstverständlich wie in allen ehemaligen Ostblockstaaten verschlagen und korrupt ist. Bei der Ausfahrt aus Astana regelten Verkehrspolizisten auf jeder größeren Kreuzung den Morgenverkehr, um unnötige Staus zu unterbinden. Wir hatten uns so schnell an die hilfreichen Männer mit den wirbelnden, roten Leuchtstäben gewöhnt, dass wir beim ersten Linksabbiegen an einer unbemannten Ampelkreuzung fast in den Gegenverkehr gerauscht wären.

Die Polizei lungert zwar allerorten mit Radarpistolen, aber wir fahren ohnehin nicht zu schnell, und jedes Mal, wenn wir wegen Fahrens ohne Licht, falsches Einbiegen in eine nicht klar gekennzeichnete Einbahnstraße oder einfach wegen einer allgemeinen Verkehrskontrolle angehalten wurden, waren die Beamten höflich, freundlich und hilflos, weil sie meist nur kasachisch und russisch sprechen. Niemand versuchte sich mit einem Phantasiedelikt an uns zu bereichern.

Auch der Uniformierte, der hinter dem Kreisverkehr im Niemandsland bei Rubevka die Backen hinter seiner Trillerpfeife aufpumpt und anschließend hektisch hinter uns herwinkt war eine ehrliche Haut. Obwohl wir ihn ignorierten und einfach weiterfuhren, können wir das sicher sagen, denn selbstverständlich lässt der frustrierte Ordnungshüter den nächsten bunt beklebten Mercedes büßen, in welchem Alex und Fotograf Walter sitzen. Die verlieren zehn Minuten, weil die Staatsgewalt erst Papiere überprüfen und dafür telefonieren muss, dann aber lässt man auch unsere ewigen Begleiter unbehelligt laufen. Nach einem Fotostopp und einer Pinkelpause unsererseits haben sie wieder aufgeschlossen, und Walter kann noch ein paar Bilder von unendlicher Weite bei tief stehender Abendsonne schießen.

Felder verdrängen die Steppe

Den Hintergrund bildet allerdings nicht mehr das wogende Gras der Steppe. Je näher wir in Richtung Russland kommen, desto mehr bestimmen endlose Felder die Landschaft, über die ein kalter Wind weht. Auf diesen Äckern wuchs einst Weizen für die Sowjetunion, aber angeblich lieferten die renitenten Kasachen im Schwitzkasten des großen Bruders immer nur gerade so viel Getreide, dass das Politbüro in Moskau nicht sauer wurde.

Die Piste ist auf dem Weg in die nördlichste Provinzhauptstadt Petropablovsk nicht mehr annähernd so gut wie am Morgen. Sie führt als normale, kasachische Landstraße mit all ihren Wellen, Buckeln und Senken über einen Damm zwischen Feldern und kleinen Teichen.

Die einzige Abwechslung für das Auge bilden vereinzelte Bretterbuden am Straßenrand, wo die Einheimischen handgemachte Reisigbesen anbieten. Bei Ankunft am Etappenziel berichtet Tankchef Thomas Werner stolz, dass er einen davon erstanden habe. Erwähnte ich schon, dass Werner ein Urschwabe ist? Sieht aus, als hätten wir uns die ganze Diskussion über Vorurteile und Klischees am Morgen sparen können.