Mit dem Lenkrad verhält es sich wie mit dem Essen. Ohne geht es nicht. Jedenfalls solange ein Fahrer gewünscht ist. Und doch schenken wir dem Lenkrad heute wenig Beachtung. Weil wir es als gegeben ansehen, wie Haare auf dem Kopf, und wir es nur als störenden Teil empfinden, wenn ein Designer wirklich mal daneben langt. Die Menschheit hat sich daran gewöhnt, dass sich die Vorderräder eines Autos nur einschlagen, wenn wir am Volant nach links oder nach rechts drehen.

Die Entwicklung des Lenkrades ist so rasant wie die des Autos selbst. Das erste Automobil der Welt hatte nicht mal eines. Der Fahrer steuerte den dreirädrigen Benz Patent-Motorwagen aus dem Jahr 1886 mit seinem 0,75 PS Einzylinder über einen senkrecht angeordneten Holzgriff. "Der waagerechte Halbmond darunter ist wie ein Winkelmesser, das letztendlich den maximalen Lenkeinschlag zeigt", sagt Hans-Peter Wunderlich.
Der Kreativdinosaurier, wie er sich selbst nennt, leitet bei Mercedes das Innenraum-Design und befasst sich seit 30 Jahren im Unternehmen mit Lenkrädern. Die Daimler Motorkutsche, das erste Auto mit vier Rädern und Benzinmotor, hält man hingegen über 4 gegenüberliegende und miteinander verbundene Speichen ohne Kranz drum herum in der Bahn. Schnelles Lenken geht nur, indem man umgreift.
Lenkräder wie Playstation-Controller
Alfred Vacheron gilt als Erfinder des Lenkrades. Der französische Ingenieur lenkte seinen 4 PS starken Panhard im Jahr 1894 von Paris nach Rouen. Und wurde in dem Rennen Elfter. 1900 stattete auch die Daimler-Motoren-Gesellschaft ihren Phoenix-Rennwagen mit einem Lenkrad aus. Außerdem wurde die Lenksäule schräg gestellt, was die Bedienung enorm erleichterte.
120 Jahre später sind Lenkräder nicht mehr nur Lenkräder. Sie erfüllen nicht mehr nur den Zweck, die Vorderräder durch eine Drehbewegung so präzise wie möglich zu steuern. Sie sind wie Playstation-Controller. Mit allerlei Funktionen.
Der Fahrer bedient darüber inzwischen das Infotainment, stellt das Radio lauter oder leiser und verwaltet Fahrassistenten wie beispielsweise den Tempomat. Selbst berührungsempfindliche Flächen haben es auf das Lenkrad geschafft. Kleine Touchpads für die Daumen finden sich beispielsweise in Mercedes C-, E- und S-Klasse. In der neuen E-Klasse startet jetzt die neue Lenkradgeneration mit kapazitiver Hands-Off-Erkennung, schreibt Mercedes. Im Lenkradkranz befindet sich eine Zwei-Zonen-Sensormatte. Sie erkennt, ob der Fahrer auch tatsächlich die Hände am Lenkrad hat. Es ist keine Lenkbewegung mehr erforderlich.
Früher stellte man über das Lenkrad noch die Frühzündung, Spätzündung und das Standgas ein. Man hupte mit dem Hupenring. Inzwischen drückt man, um zu hupen. Dafür muss der Fahrer mindestens eine Kraft von 23 Newton pro Feder aufbringen. Im Lenkrad sind vier Federn verbaut. Früher führte ein Aufprall mit dem Oberkörper zu schweren Verletzungen. Inzwischen schützt ein Airbag.
Früher waren Lenkräder waagerecht angeordnet. Man musste kurbeln wie Kinder im Karussel auf dem Spielplatz. Inzwischen stehen sie fast senkrecht wie in einem Rennwagen. Weil es uns die Arbeit erleichtert und weil wir die Lenkung präziser führen können. Selbst in den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich das Aussehen stark geändert. Schauen Sie sich nur mal alte und moderne Lenkräder des Porsche 911 an.

Das Lenkrad verbindet uns wie kein anderes Teil mit dem Auto. Ansonsten fühlen wir es durch den Sitz mit Rücken und Gesäß und über die Füße durch Gasgeben, Bremsen und Kuppeln. Kleidung und Schuhe verhindern den direkten Kontakt. Mit unseren sensiblen Fingern, dem sogenannten taktilen Empfinden, können wir das Auto fühlen. Es wirklich greifen mit einer natürlichen Handbewegung.
Für die Gestaltung haben sich feste Größen entwickelt. "Der Kranz sollte 29 Millimeter breit sein. Unter 27 Millimeter empfinden wir ihn so dünn wie Spargel. Ab 31 Millimeter empfinden wir ihn als vulgär. Je größer die Kranztiefe ist, desto sportlicher liegt das Lenkrad in der Hand. Bei Mercedes legen wir mit 44 Millimetern die Grenze fest. Ansonsten kann die Hand das Lenkrad nicht mehr natürlich umgreifen", erklärt Designer Wunderlich.
Früher waren Lenkräder flach. Inzwischen formen die Designer sie wie Schüsseln dreidimensional aus. Auch für die Schaltwippen gibt es Richtlinien bei Mercedes. Ein langes für Sportwagen mit etwas Widerstand und einem Klacken für ein kerniges Schaltgefühl. Ein kurzes mit weicheren Kennfeldern für Alltagsautos, sofern sie Paddels am Lenkrad haben.
Lenkräder als Königswerk
Entwickler und Designer arbeiten Hand in Hand arbeiten. Was einfach klingt, gestaltet sich oftmals aber schwer. Weil es Designern vor allem um Schönheit geht. Entwickler wollen dagegen möglichst viele Funktionen ins Lenkrad packen. "Dann sieht das Lenkrad aber vielleicht nicht immer am besten aus", sagt Dr. Ralf Ackermann aus der Mercedes-Entwicklungsabteilung (Interieur Konzepte und Systeme). Das erstrebenswerte Produkt ist eine "Symbiose aus Design, Funktionalität und maximaler Sicherheit".
Ackermanns Team gibt zunächst die Größen vor. "Zum Beispiel, wie groß einzelne Bauteile für die Lenkradfunktionen sein müssen. Oder wie das Leder ins Holz übergehen muss." Die Designabteilung kümmert sich um die Umsetzung, was der Kunde sieht und greift. Die beiden Abteilung feilschen um die Details: Kann eine Platine kleiner ausfallen, damit der Designer die Oberfläche schöner ausgestalten kann? Wo müssen die Bedienelemente wie Rädchen, Schalter und Touchpads sitzen, damit die Finger sie bestmöglich erreichen? Die Neuentwicklung eines Lenkrades kann dann schon mal zwei Jahre oder mehr verschlingen.
"Wer Lenkräder entwerfen kann, kann im Innenraum alles", sagt Wunderlich. "Es geht um hohe Funktionalität, Sportlichkeit, Ergonomie, dreidimensionale Tiefe. Und das alles auf kleinstem Raum. Es kommt auf das Gefühl an. Der erste Eindruck zählt. Wie greife ich das Lenkrad das erste Mal? Wie kommt es mir entgegen? Wie wirkt es auf mich? Ein perfekt designtes Lenkrad verzeiht viele Fehler im Innenraum."
Es ist wie bei einer Herrenuhr, die nicht nur schön aussehen, sondern sich am Armgelenk auch gut tragen lassen muss. Oder wie mit einem Pullover. Was bringt es, wenn der toll aussieht, dafür aber kratzt? Neben internen Schleifen, die bis zu Chefdesigner Gorden Wagener führen, werden auch externe Probanden bei der Entwicklung miteinbezogen. Man sollte ja schließlich nicht am Kunden vorbei entwickeln. Rückmeldung, Ergonomie und Bedienlogik sind so wichtig wie bei einem Smartphone.
Modulstrategie bei Mercedes
Mercedes verfolgt für seine Lenkräder eine Modulstrategie. Im Prinzip gibt es einen Baukasten mit einzelnen Abwandlungen je nach Fahrzeugklasse. Ziel ist es, die Lenkräder so ähnlich wie möglich zu halten, um einen Wiedererkennungswert zu schaffen. So wie es bei den Autos der Fall ist. C-Klasse, E-Klasse und S-Klasse wirken auf den ersten Blick wie Zwillinge. Mit verschiedenen Körpergrößen. So verhält es sich auch bei Audi A4, A6 und A8. Gleichheit schafft einheitliche Standards und damit Prozesssicherheit. "Wenn es gut läuft, müssen wir schließlich über 2,5 Millionen Lenkräder im Jahr produzieren", erzählt Ackermann.

Die Mercedes-Lenkradfamilie bilden die Varianten "Basis", "Sport", "Supersport" und "Luxus". Von A-Klasse über den AMG GT bis zur S-Klasse. Das Gerippe besteht aus Magnesium oder Aluminium. In den Rohbau werden die Innereinen eingepflegt. Also Airbag, Kabel, Platinen, Schaltfelder und Elektronikbestandteile für Komponenten wie die Lenkradheizung. "Es bleibt kaum ein Kubikmillimeter Platz mehr." Das Ganze wird bei der Herstellung meist umschäumt und mit Blenden versehen. Aus Kunststoff, Holz oder Leder.
Der gepolsterte Pralltopf in den 1960er Jahren und vor allem der Airbag in den 1980ern machten Lenkräder sicherer. Mercedes brachte das Luftkissen mit dem W126 im Jahr 1981 auf den Markt. Damals noch als Ausstattungsoption für 1.525,50 Mark inklusive Gurtstrammer für den Beifahrersitz.
Es dauerte elf Jahre, bis Mercedes in jedem Lenkrad einen Airbag integrierte. Andere waren in diesem Punkt schneller. Der Airbag wurde schon in den 1950ern zum Patent angemeldet. Insbesondere in den USA experimentierten die Hersteller mit den Luftsäcken. Mit teilweise verherrenden Ergebnissen. Airbags verletzten durch unkontrolliertes Aufblähen.
Die Entwickler jubelten über das passive Sicherheitsfeature. Die Designer rauften sich fast 20 Jahre lang die Haare. Die großen Airbags verschandelten die Optik. Heute werden die vakuumverpackten Luftkissen immer kleiner. Bei besserer Funktionalität. "Zum Glück sind die tellergroßen Airbags Geschichte", freut sich Wunderlich. "Mein Traum ist eine glänzende Billardkugel in der Mitte. Es wäre wunderschön, wenn wir das Skelett und die Sicherheitsstrukturen sichtbar machen könnten."
Was den Prozess beschleunigen könnte: Lenkräder sind bei Mercedes seit ein paar Jahren in der Innenraum-Entwicklung angesiedelt. Und nicht mehr in der Fahrwerksabteilung. "Raus aus der reinen Ingenieurssicht", meint Wunderlich.
Lenkrad vom Aussterben bedroht
Ein Airbag bläst sich im Falle eines Aufpralls innerhalb von 30 Millisekunden auf einen Standard-Durchmesser von 720 Millimetern und ein Volumen von 64 Litern auf. Der Sicherheit dienen auch die Lenkradspeichen. Sie sind im Prinzip Stützen für den Kranz, wie Säulen einer Kirche, und nehmen Kräfte auf. Was vor allem im Falle eines Unfalls entscheidend ist. Ohne sie könnte der Lenkradkranz brechen.
Die Anordnung der heute meist drei oder vier Speichen muss so ausfallen, dass die Kräfte bestmöglich in die Speichen geleitet und dort verarbeitet werden. Das Lenkrad des Mercedes 300 SL, gebaut zwischen 1954 und 1963, würde man heute nicht mehr in dieser Form konstruieren. Die zwei Speichen stehen hier auf vier und acht Uhr. Auf einen dritten Träger wurde verzichtet. "Bei einem Frontallaufprall könnte der obere Teil des Lenkrades brechen, wenn der Fahrer sich dort festhält und daran zerrt."
Mercedes definiert die statischen Abstützkräfte am oberen Lenkradkranzsegment wie folgt: 500 Newton elastisch (dehnbar), 700 Newton plastisch (formbar). Die Lenkkräfte betragen 3 bis 4 Newtonmeter, je nach Fahrweise (Querbeschleunigung, Stößigkeit) steigen sie bis 20 Nm an.

Warum waren Lenkräder in Serienautos eigentlich lange Zeit rund ausgeprägt? Warum sind sie nicht quadratisch wie im Austin Allegro von 1973? "Es sollte sich beim Umgreifen immer gleich anfühlen. Am Ausgang der Kurve drehte sich ein rundes Lenkrad von selbst wieder in die Ausgangsstellung zurück. Bei einem quadratischen gibt es Schläge", erklärt Wunderlich. Heute flachen viele Hersteller die Unterseite für eine sportlichere Optik ab. "Inzwischen flacht man sogar an den Seiten ab. Mit der modernen Technik ist das möglich." Aston Martin macht das zum Beispiel so.
Mittlerweile winkeln die Hersteller die Lenkräder auch nur noch leicht an. Sie stehen fast senkrecht wie in einem Rennwagen. Dort schneidet man Lenkräder oben und unten ab, um erstens bei tiefer Sitzposition eine optimale Sicht zu gewährleisten und zweitens Platz zwischen Beinen und Lenkrad zu schaffen.
Bei der Lenkradverstellung decken die Hersteller nicht alle Körpergrößen ab. "Unser Spektrum umfasst fünf bis 95 Prozent. Die unteren fünf Prozent und die oberen fünf Prozent müssen wir außen vor lassen", sagt Wunderlich. Weil es ein verschwindend kleiner Prozentsatz ist, und die betroffenen Personen über die Sitzverstellung noch Anpassungsmöglichkeiten haben. In der Zukunft könnte das alles Makulatur sein. Mit dem autonomen Fahren, sollte es jemals kommen, drohen Lenkräder auszusterben.