Das Finale der Sportwagen-WM in Bahrain 2024 lieferte für die WEC ein Traumresultat: Die LMH-Marke Toyota gewann die Marken-WM, die LMDh-Topmarke Porsche sicherte sich den Fahrer-Titel, und dass Ferrari zum zweiten Mal in Folge das 24h-Rennen in Le Mans gewann, brachte dem Sport und der WEC weltweit nur positive Schlagzeilen. Und wer noch skeptisch ist: Alle LMDh-Marken mit Ausnahme von Lamborghini standen 2024 auf dem Podest.
Das ist ziemlich exakt das Gegenteil von dem, was Skeptiker prognostiziert hatten: Die Balance of Performance oder BOP werde es niemals schaffen, die nicht eben geringen technischen Unterschiede zwischen LMH und LMDh auszugleichen. Und im Übrigen würde die WEC immer ihre eigene Klasse, also die LMH, bevorzugen, die billigeren LMDh-Pappenheimer aus Amerika seien nur ein geduldeter Feldfüller. BOP könne eh nur im GT-Kundensport funktionieren – aber niemals im Hypercar-Werkssport.

Porsche teilte sich mit Toyota die Siege in der Saison 2024 auf.
Der BOP-Budenzauber
Die WEC hat ihre Kritiker in der Saison 2024 eines Besseren belehrt. Porsche und Toyota teilten sich brüderlich drei Siege, Ferrari stand zweimal ganz oben auf dem Podest. Nette Pointe: Bei zwei WM-Läufen siegten sogar extern finanzierte Kundenteams, nicht die Werksmannschaften.
Wie soll man diesen unerwarteten Budenzauber erklären? Das Ziel einer jeden BOP besteht darin, etwas Ungleiches gleicher zu machen. Im GT-Sport ist die Ungleichheit über das Straßenprodukt quasi vorgegeben: GT-Autos sind unterschiedlich groß, die Motoren sind wahlweise vorne, hinten oder in der Mitte verbaut, dazu haben sie unterschiedliche Hubräume und variieren bei der Zylinderzahl. Genau deshalb wurde die BOP vor 25 Jahren auch im GT-Sport erfunden: Alle Hersteller sollten eine Siegchance haben, unabhängig vom jeweiligen Fahrzeugkonzept.
Das Konzeptdelta ist im Prototypensport logischerweise geringer als im GT-Sport: Alle LMDh- und LMH-Wagen haben das gleiche Gewicht, die gleiche Motoreinbau- und Schwerpunktlage, die Aerodynamik folgt einem strikten Verhältnis zwischen Luftwiderstand und Abtrieb. Und seitdem sogenannte Torque-Sensoren die exakte Leistung an den Antriebswellen messen, sind die vermeintlich ungleichen Autos gleicher als sie es jemals zuvor waren. Nicht zu vergessen: In der sogenannten Konvergenzphase wurden viele Technikunterschiede über gezielte Reglementsanpassungen weiter reduziert.
Die erste Nagelprobe für die BOP im Debütjahr 2023 ging noch gründlich in die Hose, weil sich die BOP-Experten in ihrer eigenen Ideologie verfangen hatten: Weil auf dem Papier alle Hypercars gleich zu sein schienen, zählten nur Performance-Parameter erster Ordnung, die qua Simulation aus dem Fahrzeugmodell errechnet wurden.

Die Hersteller lagen dank einer besseren BOP 2024 näher beieinander.
BOP für 2024 verbessert
Schnell stellte sich heraus, dass die Unterschiede beim praktischen Betrieb auf der Rennstrecke größer waren, als es die optimistische Simulation prophezeit hatte. Jedes Auto hat individuelle Stärken und Schwächen, die je nach Rennstrecke stärker oder schwächer durchschlagen: Es gab Hypercars, die gut mit Bodenwellen oder hohen Kerbs umgehen konnten, wie Toyota, und andere, die nur mit geringer Bodenfreiheit wirklich schnell waren, wie Porsche. Es gab große Unterschiede bei der Reifennutzung, wo Toyota dominierte. Oder bei den Topspeeds in Le Mans, wo Ferrari allen auf und davon fuhr, obwohl das verordnete Aero-Fenster doch eigentlich so klein sein sollte wie ein Guckloch.
In einem Satz: Das erste BOP-Konzept von 2023 balancte nur die Theorie, aber nicht die Praxis. Das änderte sich 2024, die BOP-Macher sahen ihre Fehler ein und warfen alles über den Haufen: Nun basierte die BOP auf richtigen Rennanalysen, mit einer klassischen Speedauswertung, z. B. 20 Prozent der schnellsten Rennrunden als Richtwert für den Grundspeed. Um zu verhindern, dass die Hypercar-Hersteller die BOP-Arithmetik gezielt unterlaufen, indem sie ihren Rennspeed auf die 20-Prozentmarke zuschneiden, wechselten die BOP-Macher nicht nur laufend den Prozentsatz, sondern sie zogen oftmals mehrere Rennen zur Bewertung heran und gewichteten sie unterschiedlich.
Für den fünften WM-Lauf in São Paulo gewichtete man die BOP-Berechnung wie folgt: 40 Prozent kam aus Spa, 30 Prozent aus Le Mans und 20 Prozent aus Imola. Die Hersteller waren verwirrt, klagten über den intransparenten Prozess – doch genau das wollten die BOP-Macher erreichen. Wer nicht weiß, wie die BOP errechnet wird, der fährt halt so schnell wie möglich, um ein gutes Resultat zu erzielen.

Ferrari hatte in Le Mans einen Topspeed-Vorteil gegenüber Konkurrenz.
Innovative Two-Stage-BOP
Weil sich jedoch die Beschleunigungsprofile in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit weiterhin stark unterschieden, zogen die BOP-Macher für das WM-Saisonhighlight in Le Mans einen weiteren Hasen aus dem Hut: die zweistufige BOP. Nach dem oben geschilderten Modus wurde zunächst eine Grundeinstufung für Le Mans vorgenommen, obendrauf kam die sogenannte Streckenprojektion, die ausfiltert, ob die nächste Rennstrecke einem Fahrzeug entgegenkommt oder nicht. Entsprechend gibt es bei der BOP Abzüge oder Aufschläge.
Doch weil in Le Mans auf den langen Geraden sehr hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten erzielt werden, wurde das Highspeed- und Topspeed-Verhalten einer separaten Betrachtung unterzogen: Oberhalb von 250 km/h wird Leistung weggenommen, wenn ein Auto bei hohen Speeds besonders gut funktioniert, oder Leistung aufaddiert, wenn das Gegenteil der Fall ist. Für Le Mans bekamen aerodynamisch ausgefeilte Fahrzeuge folglich Abzüge verpasst, Hersteller mit hohem Fahrzeug-Luftwiderstand bekamen mehr Leistung – womit die großen Unterschiede aus 2023 deutlich kleiner wurden.
Wie das im Detail überprüft wird? Alle Hypercars fahren mit einer Maximalleistung von circa 700 PS. Kontrolliert wird das über die Torque-Sensoren an den Antriebswellen, die Steuergeräte für Motor und Hybrid geben nur exakt so viel Leistung frei, wie erlaubt ist. Dabei gilt: Je näher man an der erlaubten Leistungskurve fahren kann, umso besser. Ferrari bekam in Le Mans für sein überdurchschnittlich gutes Highspeedverhalten einen Abzug von 1,7 Prozent Leistung oberhalb von 250 km/h, also etwa 12 PS.
Nun kann man sagen: Was hat es gebracht, denn Ferrari hat ja trotzdem gewonnen. Das stimmt, aber erstens sank die Topspeed-Überlegenheit von bis zu 10 km/h (2023) auf etwa 5 km/h. Zweitens bleibt das Problem, dass der kleinste Topspeedvorteil in Le Mans doppelt und dreifach zählt, weil man dann besser überholen kann. Drittens waren die Witterungsbedingungen in Le Mans 2024 extrem wechselhaft, sodass die Topspeed nicht der einzige Knackpunkt war. Und viertens hatte Toyota mit der Nummer 8 in Le Mans das schnellste Auto, nicht Ferrari. Das Rennen verloren die Japaner, weil sie von Ferrari abgeschossen wurden – und dieses Vergehen nur völlig unzureichend bestraft wurde.

In Le Mans ist der Topspeed eine wichtige Trumpfkarte für den Erfolg.
Le Mans sticht heraus
Natürlich ist Le Mans der große Sonderfall der WEC, ähnlich wie Daytona in der IMSA-Serie. In beiden Fällen kämpfen die Hersteller um jeden km/h Topspeed. Weshalb 2025 auch neue, innovative Ideen auf dem Tisch liegen: So könnte man die Topspeeds nach dem Testtag oder dem Qualifying einfrieren, sodass es keine Vor- und Nachteile mehr gäbe. Die Gefahr ist dann aber das sogenannte Pack-Racing: Wenn alle Marken die gleichen Topspeedlevel haben, müssen die Fahrer mehr Risiko nehmen, was oft die Unfallgefahr erhöht.
ACO-Präsident Pierre Fillon hatte beim WM-Start in Katar versprochen: "Unser Ziel besteht darin, dass der beste LMDh-Hersteller aus eigener Kraft Rennen gewinnen kann." Ob man das Thema BOP nun mag oder nicht, Fakt ist, dass die WEC ihr Versprechen 2024 überzeugend eingelöst hat. Porsche hat als LMDh-Hersteller aus eigener Kraft Rennen und einen WM-Titel gewonnen. Mission erfüllt?
Noch nicht. Die letzte Nagelprobe bleibt Le Mans, wo die LMDh-Hersteller bisher generell mit einem spürbaren Konzeptnachteil kämpfen. Doch am Ende aller Tage muss man zugeben, dass die WM-Ausrichter ACO und FIA beim Thema BOP und Chancengleichheit zwischen LMDh und LMH Wort gehalten haben.
Oder auf Französisch: C'est en forgeant qu'on devient forgeron. Nur durchs Schmieden wird man zum Schmied. Oder übertragen: Übung macht den Meister.