Lotterer und Stuck über die Faszination Le Mans

Doppelinterview Lotterer und Stuck
„Am Risiko von Le Mans hat sich nichts verändert“

24h Le Mans 2023

Hier ist die extra lange, extra nerdige Fassung des Gewinner-Gesprächs.

São Paulo, Stuttgart, Spa – André Lotterers letzte Wochen stehen sinnbildlich für den reiseintensiven Alltag eines modernen Rennfahrers. Wie sah es bei Ihnen aus, Herr Stuck?

Stuck: Es gab bei mir Zeiten in den Siebzigern, als ich mit der Formel 1, der Formel 2 und Tourenwagen 36 Rennen pro Jahr gefahren bin. Da war ich Samstag noch bei der Formel 1 in Brands Hatch und Sonntag mit Tourenwagen in Diepholz. Als Pilot ist man damals ähnlich viel unterwegs gewesen, aber es war nicht ganz so anstrengend, wie es heute ist.

Sie beide stammen aus Rennsport-verrückten Familien. Welche Rolle spielte Le Mans in Ihrer Jugend?

Lotterer: Bei mir waren erst die 24 Stunden von Spa mehr im Fokus, da ich in Belgien aufgewachsen bin. Mein Vater betrieb dort ein Rennteam, das aber leider nicht in Le Mans gefahren ist. Natürlich habe ich das Rennen aber immer verfolgt, und für mich waren schon in kleinem Alter die Gruppe-C-Renner die coolsten Autos. Da gab es keinen Weg daran vorbei! Weil das Team meines Vaters Porsche-Kunde war, bekam es große Modelle dieser Autos. So stand bei meinem Dad ein Rothmans-Porsche im Büro, mit dem ich immer spielen wollte, aber nie durfte (lacht).

Stuck: Ich habe noch den letzten Renn-Abend meines Vaters mitbegleitet, der gefahren ist, bis er 62 Jahre alt war, und dabei sogar in Monza gewann. Er ist leider nie in Le Mans angetreten, aber in Gesprächen hat sich für mich herauskristallisiert, dass es drei wichtige Rennen gibt: das Indy 500, den Grand Prix von Monaco und Le Mans. Und ich dachte mir, Mensch, eines davon möchte ich mal gewinnen. Hinsichtlich Indy ging nichts, in Monaco wurde ich immerhin einmal Vierter, aber als ich dann zum ersten Mal in Le Mans auf dem Siegertreppchen stand, hatte ich eines der drei Ziele erreicht. Wenn man in Frankreich unterwegs ist und mit Leuten redet, realisiert man, was dieser Erfolg zählt.

24 Stunden von Le Mans 1986 - #1 Rothmans Porsche 962 - Derek Bell - Hans-Joachim Stuck - Al Holbert
Motorsport Images

Bei Ihren Le-Mans-Debüts konnten Sie jeweils auf Langstrecken-Vorerfahrung setzen. Überwog trotzdem der Respekt?

Stuck: Ich hatte auf jeden Fall Respekt, auch später. Als ich die Chance bekam, für Porsche in Le Mans zu fahren – und auch davor in der Formel 1 –, gab es noch nicht die heutigen Sicherheitsstandards. In der Formel 1 erlebte ich viele tödliche Unfälle, zum Beispiel Tom Pryce in Südafrika, und auch in der Gruppe C verstarben Stefan Bellof und Jo Gartner. Man wusste, auf was man sich da einlässt. Mich hat sowas sehr stark belastet, aber sobald ich im Auto saß und der Motor lief, waren die Gedanken wie weggeblasen. Sonst hätte ich das nicht machen können. Wenn man sich überlegt, dass ich mit bis zu 400 km/h nachts auf der langen Gerade von Le Mans gefahren bin! Es durfte einfach nichts schiefgehen.

Lotterer: Da haben wir es natürlich besser. Als ich zum ersten Mal in Le Mans gefahren bin, brach die Leidenschaft für dieses Erlebnis aus mir heraus. Gleichzeitig verspürte ich aber auch sehr viel Respekt, weil jeder kleinste Fehler auf dieser Strecke hart bestraft wird. Es gibt kaum Auslaufzonen und man ist häufig über 300 km/h schnell. Man muss immer höchst konzentriert und vorausschauend im Verkehr sein. Denn selbst wenn die Autos sicher sind, kann immer etwas passieren. Daran hat sich nichts verändert.

2011 wurde das besonders eindrücklich vorgeführt.

Lotterer: 2011 war auf jeden Fall sehr spektakulär. Wie Strietzel schon sagte: Wenn man den Helm aufhat und im Cockpit in seinem Element ist, spielt man unwillkürlich mit dem Limit. Die Kunst ist, 100 Prozent sicher zu erreichen. 99 Prozent sind schon nicht gut genug, weil man so ein paar Millionen Entwicklungsbudget verschwendet, die nicht herausgequetscht werden. Und wenn man 101 Prozent fährt, kann schnell ein Unfall passieren. Genau das ist Allan McNish 2011 passiert, der am Anfang zu viel wollte. Als Fahrer ist man da natürlich schockiert, aber als klar war, dass er aus dem Auto gestiegen ist und alle Beteiligten in Sicherheit waren, geht das Rennen für einen selbst sofort weiter.