Das Final-Drama begann schon im Abschlusstraining. Beide Jaguar-Piloten hatten größere technische Probleme: Nick Cassidy musste aufgrund eines kaputten Brake-by-Wire-Systems vorzeitig aufhören, Mitch Evans wurde Opfer eines skurrilen Aufhängungsschadens. Bis kurz vor der Qualifikation arbeiteten die Mechaniker intensiv an den E-Rennern, vor allem Cassidys Jaguar brauchte viel Aufmerksamkeit.
Den kollegialen Kiwis merkte man den Frust des hektischen Morgens allerdings nicht an. Nick Cassidy holte sich die letzte Pole-Position – gleichzeitig seine erste der Saison. Auch Maserati-Mann Maximilian Günther zeigte Charakterstärke. Auf den bitteren Ausfall am Samstag antwortete er mit dem zweiten Startplatz. Mitch Evans wurde vor dem WM-Führenden Pascal Wehrlein Dritter. Mit den Zusatzpunkten für Cassidy verrechnet, las sich die Top 3 in der Wertung so: Wehrlein (180), Evans (177) und Cassidy (176).

Im Abschlusstraining musste Nick Cassidy wegen eines Schadens vorzeitig aussteigen, in der Qualifikation holte er unbeeindruckt den Pokal für die Pole-Position.
Taktik-Zoff im Jaguar-Team
Diese Konstellation versprach zurecht ordentlich Spannung. Mitch Evans ging direkt am Start hohes Risiko ein und gab Jaguar dank der schnell erzielten Doppelführung die beste Ausgangslage. Ein frühes Safety Car verschob Wehrleins Attacke auf Günther, in der siebten von final 37 Runden setzte sich der Porsche-Pilot im innerdeutschen Duell durch.
Ein zweites Safety Car brachte danach die drei Titelanwärter zusammen. Von da an übernahm das Timing der Attack-Mode-Aktivierungen die Hauptrolle. Hierbei sollte Nick Cassidy als erstes zucken und innerhalb weniger Runden beide Boosts holen. Porsche wählte wie am Vortag einen geduldigen Ansatz. Auch Evans sollte länger warten. Diese Entscheidung sorgte Jaguar-intern für dicke Luft. Erst war Evans über die Rolle als Schützenhilfe unglücklich, dann der trotzdem auf den dritten Rang abgestürzte Nick Cassidy.
Dramatische Wende am Ende
Während Cassidy seinem Team schließlich widerwillig vertrauen musste, erhöhte Wehrlein ab der Rennmitte den Druck auf den führenden Evans. Dank eines erneut guten Energie-Managements hätte er von der Spitze aus die perfekten Voraussetzungen gehabt. Doch Evans hielt hart dagegen und fing sich für sein Zacken sogar eine Verwarnung. Bis in das letzte Renndrittel hinein blieb es so beim Spitzentrio Evans, Wehrlein und Cassidy.
Ab der 28. Runde sollte sich die Ausgangslage innerhalb weniger Minuten massiv verschieben. António Félix da Costa (Porsche) attackierte im Verfolgerfeld Oliver Rowland, rutschte dabei aber viel zu weit und kollidierte mit dem rechten Hinterrad von Nick Cassidy. Der Jaguar-Pilot zog sich dabei einen Plattfuß zu und musste sich schlingernd in die Box retten. Diesem Chaos fiel Maximilian Günther obendrauf zum Opfer. Nach dem Getriebewechsel litt er am Sonntag aber grundsätzlich unter einer schlechteren Pace.

Wie am Samstag lieferten sich Evans und Wehrlein harte Duelle. Diesmal fand der Deutsche lange keinen Weg vorbei.
Evans verpasst zweimal den Attack-Mode
Für Mitch Evans und Pascal Wehrlein bot das Durcheinander einen perfekten Zeitpunkt für ihre ersten 50 Extra-Kilowatt. Doch während sie die Schleifen durchfuhren, rief die Rennleitung die dritte Neutralisierung aus. Oliver Rowland staubte kurz ab und sprang in die Führung. Um der Untersuchung eines Überholmanövers unter Gelb zuvorzukommen, ließ er Evans aber später vorbei – nicht jedoch Wehrlein. Der frühere F1-Pilot hatte dementsprechend doppeltes Timing-Pech beim Ausrufen des Safety Car.
Dadurch behielt der Neuseeländer anhaltend die besten Karten. Dies änderte sich auch nicht bei dem nachgeholten ersten Attack-Mode. Wehrlein hatte dabei sogar das Glück, von Da Costa abgeschirmt zu werden. Die Entscheidung des Rennens und der WM fiel im 33. Umlauf. Evans war zu mittig in der Einfahrt der Aktivierungszone und scheiterte diesmal selbstverschuldet an der Pflichtaufgabe. Die Misere fiel doppelt schlimm aus: Er musste nicht nur eine Runde später abbiegen, sondern den Boost-Countdown managen, um nicht mit Rest-Power ins Ziel einzulaufen. Das aus Angst vor dem Regelbruch vorgeschriebene Bummeln hätte ihm fast P3 gekostet.

Oliver Rowland kämpfte über weite Teile der Saison um den Titel. Nach einer krankheitsbedingten Absage in Portland holte er in London noch den Abschlussieg.
Ruhiger Wehrlein erlöst Porsche
Während Evans' Saison so brutal ihr Ende fand, blieb Wehrlein in der Verfolgung von Rowland. Der Deutsche beließ es aber beim sicheren zweiten Platz. Er resümierte über den teils harten Weg zum Weltmeister-Titel: "Ich will mich gar nicht so lange in der Vergangenheit aufhalten. Mal ist das Leben fair, mal nicht. Es war eine spannende Saison, die das perfekte Ende für die Fans fand." Der deutsche DTM-Champion debütierte 2019 für Mahindra und wechselte nach zwei Jahren zu Porsche.
Sieger Rowland sagte zum Heimsieg: "Wir haben viele neue Leute, die wir in das Team integriert haben. Unter diesen Umständen ist das Saisonergebnis eigentlich erstaunlich. Beim WM-Kampf wollte ich mich tunlichst heraushalten, hatte aber dann Glück durch die dramatischen Entwicklungen. Es ist schade, dass wir nicht mehr ein Teil davon waren, aber durch meine Krankheit vor Portland war es unvermeidbar."

In der Hersteller-Wertung hatte Jaguar durch eine Da-Costa-Strafe die Nase vorne. Ironisch: Die Qualifikation des Portugiesen in Misano spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle.
Nur einer freut sich bei Jaguar
Der chaotische Schlussspurt von Jaguar hinterließ überall im Team Spuren. Im Anschluss an die Zieleinfahrt flossen bei einigen Mechanikern Tränen. Die Piloten waren derweil wenig überraschend angefressen. Mitch Evans hielt sich bewusst in Interviews zurück, Nick Cassidy suchte Zuspruch bei anderen Piloten und moserte über die anfängliche Attack-Mode-Strategie. Nur Teamchef James Barclay stach heraus. Er wollte den Gewinn der Team-WM nicht unter den Tisch fallen lassen.
"Wir haben das Team 2016 neu aufgebaut und konnten im Vergleich zu anderen nicht von internen Programmen profitieren. Da kann man nur stolz sein. Dass die Fahrerkrone fehlt, wird natürlich schmerzen. Wir müssen uns das anschauen." Weiterer Balsam folgte nach dem Rennen: Da Costa erhielt eine Fünf-Sekunden-Strafe und Jaguar damit verzögert den Titel in der Hersteller-Trophy. Das beste Auto kommt damit offiziell aus England, passend zum Heimspiel.
Die Zeit zum Verdauen bzw. zum Feiern wird kurz ausfallen. In den nächsten zwei Monaten müssen die Hersteller ihre Updates für die Gen3 abschließend testen. Mit den Evo-Paketen halten performantere Hankook-Reifen und ein temporärer Allrad-Antrieb Einzug. Zudem ändert sich die Aerodynamik minimal. Diese Nachschärfungen bringen tiefere Rundenzeiten und neue Herausforderungen bei der Balance. Saison 11 startet am 7. Dezember in São Paulo.