Die Autos rollten bereits in ihre finalen Startpositionen, als die Vertreter der Gruppe "Letzte Generation" über die Fangzäune kletterten. In Videos ist zu sehen, wie eine Handvoll Aktivisten über die befahrene Strecke laufen, während sich noch der Rauch der Burnouts der Vorstart-Phase lichtete.
Wären die Demonstranten nur wenige Sekunden zuvor über die Begrenzung gestiegen, wären sie in der Schussbahn der aus dem Dummy-Grid beschleunigenden Renner gewesen. Bereits bei diesen Geschwindigkeiten hätte es zu schweren Verletzungen kommen können. Nach tödlichen Unfällen mit Menschen auf der Strecke reagiert die Motorsport-Szene sehr sensibel auf solche Vorkommnisse.
Formel E fühlt sich nicht angesprochen
In einem Statement erklärte die Formel E gewollt nüchtern: "Der Rennstart musste kurzfristig verzögert werden, damit die lokalen Behörden die Protestaktion auflösen konnten, die nichts mit der Serie zu tun hat." Die "Letzte Generation" widerspricht dem deutlich. Auf Twitter feierte man die lebensgefährdende Störung: "Autorennen gestört! Wir sind auf der Rennbahn, um Alarm zu schlagen."
Die Fahrer reagierten nach dem Rennen enttäuscht, dass ausgerechnet die Formel E für die Protestaktion missbraucht wurde. Jake Hughes, vor dessen McLaren sich ein Protestler festkleben wollte, sagte angesäuert: "Darüber möchte ich eigentlich gar nicht so viel reden und nachdenken. Die Formel E hat es schnell und gut geklärt. Diese Aktionen sind dermaßen inflationär geworden, dass es mich nicht mal mehr überrascht. Wer über den Zaun geht, riskiert sein und unsere Leben."
Auch Lucas di Grassi (Mahindra) musste das absurde Treiben aus nächster Nähe beobachten. Er erzählte: "Ich dachte erst, es wäre ein Sportwart! Die Leute sind verrückt. Die hätten sich verletzen können." Abschließend konnte er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: "Sie sollten sowas zukünftig wieder in Museen machen, wo man sich nicht verletzen kann."

Abt-Märchen zahlt sich aus
Der Ärger am Nachmittag überschattete die Wohlfühlgeschichte des Morgens: Bei nassen Bedingungen hatten sich Nico Müller und Robin Frijns in den bisher deutlich unterlegenen Abt-Cupra-Rennern in die K.O.-Phase der Qualifikation vorgekämpft. In furiosen Duellen arbeiteten sich die Underdogs dann sogar zusammen bis in das Finale vor.
Als die Doppel-Pole feststand, brach grenzenloser Jubel in der Box aus. Die Kemptener hatten kein Geheimnis daraus gemacht, dass fehlende Punkte und ein zu schwacher Mahindra-Antriebsstrang zuletzt reichlich Frust erzeugt hatten. Teamchef Thomas Biermaier atmete durch: "Nach dem FP3 haben wir gehofft, dass wir die Performance in die Quali rüberbringen können. Dann hat uns der liebe Gott mit mehr Regen geholfen."
Als Gründe für den unerwarteten Erfolg nannte Biermaier die Erfahrung mit Regen aus Tests und die fehlerloste Leistung seines Fahrer-Duos. Im Finale der beiden Überraschungspiloten setzte sich Robin Frijns mit einer Fabelrunde durch. Der Niederländer schenkte den Rückkehrern so die ersten drei Punkte der Saison.

Kurze Porsche-Doppelführung
Der Pole-Setter des Vortages, Sébastien Buemi (Envision-Jaguar), komplettierte die Top 3. Mit Jean-Éric Vergne (DS Penske), Mitch Evans (Jaguar) und Pascal Wehrlein (Porsche) hatte sich außerdem weitere Prominenz aus der Tabellenspitze vorne platziert. Der spätere Sieger Nick Cassidy (Envision-Jaguar) ging von Rang 8 in den Abschluss der ersten Saisonhälfte.
Nach einer kurzen Inspektion des Betons der Start-Ziel-Gerade – Stichwort Klebeprotest – zeigte das unbeeindruckte Feld einen relativ routinierten Start. Zunächst konnten die "Äbte" sogar die Doppelführung verteidigen, doch schnell begann das wilde Platztauschen im Rahmen der Attack-Mode-Aktivierungen.
Wie am Samstag erfüllte ein Großteil der Fahrer die Boost-Pflicht im Laufe der ersten Rennhälfte, um zum Ende hin strategisch flexibel zu bleiben. Die diesbezüglich befürchteten Neutralisierungen blieben allerdings aus. So wechselte die Führung diverse Male hin und her. Im Zuge dessen arbeiteten sich die Porsche-Piloten Wehrlein und António Félix da Costa an die Front und konnten für kurze Seite zusammen anführen. Vergne im goldenen DS-Auto setzte sie allerdings zügig unter Druck.

Nick Cassidy schlägt den Trend
In der 24. von insgesamt 40 Runden etablierte sich schließlich der Neuseeländer Nick Cassidy als Leader. Angesichts eines extrem engen Felds, das wiederholt an NASCAR-Pack-Racing in Daytona oder Talladega erinnerte, erwartete jeder ein anhaltendes Wechseln vorne. Doch zur Verwunderung vieler konnte niemand Cassidy wirklich gefährden.
Dem DTM-Rennsieger halfen diesbezüglich zahlreiche Duelle hinter ihm. Zum Beispiel bekamen sich Mitch Evans und da Costa in die Haare, als sie eine Offensive auf die Top 3 starteten. Am Ende durften sich Jake Dennis (Andretti-Porsche) und Vergne über die Podiumsstufen neben Cassidy freuen.
Dennis, der am Samstag mit einem Verbremser noch für Zoff gesorgt hatte, war vom siebten auf den zweiten Rang vorgefahren. Er resümierte: "Für mich war es ein schwieriges Rennen. In den letzten Monaten habe ich alles abbekommen und es schien so, als ob es hier weitergeht. Nick hatte einfach die bessere Effizienz, wir konnten ihn nicht herausfordern."

Der Pole-Fluch hält an
Jean-Éric Vergne sah es ähnlich pragmatisch. Er sammelte mit Rang 3 weitere wichtige WM-Punkte. Mit nun 81 Zählern liegt er in Schlagdistanz zu Pascal Wehrlein (100), der Siebter wurde, und zum Triumphator Cassidy (96). Letzter gab sich nach dem Verkürzen des Rückstands entspannt: "Zwischen einem Sieg und einem miesen Ergebnis liegt in der Formel E sehr wenig. Bislang war das Glück auf unserer Seite. An Tagen wie heute nehme ich das sehr gerne mit."
Auf der anderen Seite der Envision-Garage war derweil das Pech zuhause. Buemi, der lange gut unterwegs war, spielte am Ende wegen eines Schadens keine Rolle. Auch der Pole-Setter Frijns musste sich mit einem Platz am Ende des Feldes zufriedengeben. Somit gewann zum elften Mal in Folge nicht der Pilot, der vom ersten Startplatz losfuhr.
Zum Abschluss eines hektischen Renntages gab es immerhin noch eine kleine positive Randnotiz. Nico Müller sammelte dank des neunten Rangs zwei weitere Punkte für Abt. Das nächste Rennen der Elektro-Serie steht am 6. Mai in Monaco an – dann hoffentlich ohne Menschen auf der Strecke.