Toto Wolff Interview: "Keiner eine Sekunde vorne"

Mercedes-Sportchef Toto Wolff im Interview
„Keiner fährt eine Sekunde weg“

Wie tief sitzt die Enttäuschung des verlorenen WM-Finales?

Wolff: Sie sitzt sehr tief. Lewis, ich und das ganze Team sind desillusioniert. Wir lieben diesen Sport, weil er ehrlich ist. Die Stoppuhr lügt nie. Aber wenn wir das fundamentale Prinzip der Fairness brechen und die Stoppuhr nicht mehr relevant ist, dann zweifelst du an diesem Sport. Daran, dass dir die ganze Arbeit, Blut, Schweiß und Tränen weggenommen werden kann. Es wird lange dauern das zu verdauen. Ich glaube nicht, dass wir je darüber hinwegkommen, speziell Lewis als Fahrer. Wir können zusammen mit der FIA wenigstens versuchen, es in Zukunft besser zu machen.

Und die Lehre daraus?

Wolff: Ich erwarte Taten und nicht nur Worte. Wir können in einem Sport, der Sport sein soll, nicht so mit dem Regelwerk freestylen. Es muss vor dem Beginn der neuen Saison Klarheit über die Regeln geschaffen werden, so dass jeder Fahrer, jedes Team und jeder Fan weiß, was erlaubt ist und was nicht. Am Ende bieten wir Unterhaltung, aber keine Entscheidung sollte um der Show willen gegen die Regeln verstoßen.

War die Saison trotz des WM-Titels für Max Verstappen eine Erfolgsstory?

Wolff: Wenn du verlierst, ist es keine Erfolgsstory. Das Positive daran war die Leistung, wie wir es geschafft haben zurückzukommen. Nach der Disqualifikation in Brasilien hätte ich gesagt, dass die Fahrer-WM verloren ist. Trotzdem sind wir mit gleichen Punkten in Abu Dhabi losgefahren.

Red Bull hat sein Auto viel länger entwickelt als Mercedes. Trotzdem war der W12 in der zweiten Saisonhälfte besser. Wie ist das möglich?

Wolff: Wir haben unser Auto besser verstanden. Wir sind vom Setup besser gelegen und hatten einen geringeren Reifenverschleiß. Das hat sich dann auch in den Rennergebnissen gezeigt.

An welchem Punkt haben die Ingenieure das Auto besser verstanden?

Wolff: In Austin, wo wir falsch gelegen sind und dann in Brasilien.

Toto Wolff - Mercedes - Formel 1 - 2021
Wilhelm

Das Auto ist mit einem Abtriebsdefizit in die Saison gestartet. Mercedes hat den Regeländerungen die Schuld gegeben. Warum hat man sich nicht stärker dagegen gewehrt?

Wolff: Wir haben geglaubt, dass wir mit dem Einschnitt am Boden vor den Hinterrädern zurechtkommen. Bei dem Vorsprung, den wir 2020 hatten, dachten wir, dass wir das kompensieren können. Wir haben es als eine Art Herausforderung gesehen. Das war eine Fehleinschätzung. Bei den Testfahrten haben wir gemerkt, wie viel Rückstand uns das eingehandelt hat. Ich schätze mal, dass uns das eine Sekunde gekostet hat.

Mercedes hat ein Geheimnis daraus gemacht, welchen Entwicklungs-Token man beim W12 genommen hat. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt das Geheimnis zu lüften?

Wolff: Wir haben keinen Token genommen. Wir wollten eine neue Nase bauen, haben aber dann im Rahmen der Kostendeckelung unsere Ressourcen anderswo eingesetzt.

Der Motor wäre für Mercedes fast zum Stolperstein geworden. Warum brach in der zweiten Saisonhälfte plötzlich die Seuche aus?

Wolff: Wir haben nicht wegen des Motors die WM verloren, aber es ist richtig, dass wir zum ersten Mal in acht Jahren Probleme bekommen haben. Zuerst betraf es nur eine Komponente aus einer schlechten Fertigungsserie. Daraus hat sich eine Seuche entwickelt, bei denen die Motoren über die Laufzeit mehr Leistung verloren haben als früher.

Hamilton gegen Verstappen – war das wie Prost gegen Senna?

Wolff: Nein, das sind ganz andere Typen. Max ist pfeilschnell, hat aber noch nicht die Erfahrung. Lewis fährt auf dem Zenit seines Könnens. Die beiden sind in einer eigenen Klasse gefahren. Sie hatten teilweise 40 bis 45 Sekunden Vorsprung auf den Drittplatzierten.

Toto Wolff - Mercedes - Formel 1 - 2021
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War Red Bull ein anderer Gegner als Ferrari?

Wolff: Beim Ferrari kam die Leistung vom Motor. Da wussten wir, dass wir sie schlagen können, wenn wir es schaffen das Defizit auf den Geraden zu kompensieren. Ferrari hat auch mehr Fehler gemacht. Mit Red Bull war es ein offener Schlagabtausch, wie zwei Boxer, die sich abwechselnd Schläge reindrücken.

Was unterscheidet Red Bull von Mercedes?

Wolff: Ich kann schlecht beurteilen, wie Red Bull intern aufgestellt ist. Unsere Stärke ist unsere Einstellung und die Werte, an die wir uns immer halten. Vielleicht können wir Probleme schneller und besser lösen, weil wir immer mit dem Ansatz rangehen: Was haben wir falsch gemacht?

Die Formel 1 erlebt gerade einen Boom. Wie ist das möglich inmitten einer weltweiten Krise?

Wolff: Es hat sich schon im letzten Jahr abgezeichnet, dass wir ein jüngeres Publikum anlocken. Das ist eine eigene Fangemeinde geworden. Man könnte fast von einer Wachablösung der Generationen sprechen. Netflix hat eine neue Dimension in den Sport gebracht. Plötzlich wurden die Charaktere für Leute interessant, die vorher den Sport nicht verfolgt haben. Das hat uns diese neue Zielgruppe erschlossen.

Welche Rolle hat das Duell der Giganten gespielt?

Wolff: Dieser Zweikampf hat das Interesse sicher noch einmal verstärkt. Davon hat die Formel 1 klar profitiert.

Wie groß ist die Gefahr, dass der Neustart 2022 gegen die letzte Saison alt aussehen wird?

Wolff: Es gibt keinen makro- oder mikroökonomischen Grund, warum die Formel 1 nicht weiter prosperiert, außer Corona trifft uns noch einmal sehr hart. Der Sport ist hipp, das Interesse ist enorm und die Reichweiten sind so gut wie noch nie. Wir fahren 2022 in Miami ein zweites Rennen in den USA, vielleicht in 2023 sogar ein drittes. Alle Zeichen deuten auf eine positive Zukunft hin.

Toto Wolff - Mercedes - Formel 1 - 2021
Wilhelm

Haben Sie keine Angst, dass ein Team die neuen Regeln besser versteht und allen anderen davonfährt?

Wolff: Ich glaube, dass durch die Budgetdeckelung vieles angeglichen wird. Wenn einer ein Schlupfloch findet und damit davonläuft, werden es alle nachbauen. Die Autos werden alle sehr ähnlich sein. Das kann im ersten Jahr noch Unterschiede geben. Danach wird es sich ausgleichen. Es wird kein Team mehr geben, das eine Sekunde vorneweg fährt.

Red Bull hat sein 2021er Auto länger entwickelt und damit Zeit für das neue Auto verschenkt. Kann das ein Vorteil für Mercedes sein?

Wolff: Das haben wir letztes Jahr auch schon geglaubt. Dann wurde das Reglement geändert und unser Zeitvorsprung war dahin. Die Entwicklungskurve für die 2022er Autos steigt derzeit noch so stark an, dass du nicht vorhersagen kannst, wer es besser und gescheiter macht.

Die Top-Teams waren zunächst keine Anhänger der Budgetdeckelung. Wie denken Sie heute darüber?

Wolff: Natürlich waren die Teams, die tiefe Taschen hatten, nicht besonders darüber erfreut, dass uns da ein Vorteil genommen wurde. Das Ganze ist aber in ein Wettrüsten zwischen Red Bull, Ferrari und uns ausgeartet. Jetzt wird das alles ausgeglichener sein. Ich glaube, dass in Zukunft fünf oder sechs Teams für Siege in Frage kommen. Das ist für den Sport gut. Es gewinnt auch nicht immer das gleiche Team den Superbowl.

Ab wann wird Mercedes in der Formel 1 profitabel sein?

Wolff: Ab der Saison 2021.

Motor eingeschlossen?

Wolff: Motor ausgeschlossen. Genauer gesagt exklusive Motorentwicklungskosten.

Wird man das auch noch kompensieren können?

Wolff: Ich glaube schon. Wenn wir die Anteilseigner-Verhältnisse auf der Chassis-Seite ignorieren, gleichen wir es schon fast aus.

Tombazis - Wolff - GP Brasilien 2021 - Sao Paulo - Rennen
Wilhelm

Der Kostendeckel bringt Berechenbarkeit. Das steigert den Wert der Teams. Wie viel ist das Formel-1-Team von Mercedes heute wert und wie viel wert wird es in fünf Jahren sein?

Wolff: Ich möchte keine Zahlen nennen, aber ich glaube, dass wir uns den Bewertungen der amerikanischen NBA- und NFL-Teams nähern. Wir werden klar Gewinne schreiben, und damit lässt es sich einschätzen, wie du bewertet wirst. Bei uns gibt es nur eine limitierte Zahl von zehn Lizenzen. Es kann nur ein neues Team dazukommen, wenn alle anderen zustimmen. Der Eintrittspreis liegt mit 200 Millionen Dollar sehr hoch. Uns ist wichtig, dass nicht nur Mercedes profitabel sein wird, sondern dass auch die anderen Teams nachziehen. Ich denke Ferrari und McLaren werden die nächsten sein. Das erhöht den Glaubwürdigkeitsfaktor der ganzen Serie. Der Vorteil des Kostendeckels ist, dass jeder Neuzugang weiß, worauf er sich einlässt. Er weiß, dass niemand mehr als die 145 oder 140 Millionen Dollar ausgeben darf. Damit kann er an der Spitze mitfahren, weil die anderen auch nicht mehr haben. In der Vergangenheit hat keiner gewusst, wie viel Geld es kosten würde, um gegen Ferrari, Red Bull oder Mercedes anzutreten.

Wären zwölf Teams nicht besser als zehn?

Wolff: Ich finde zehn gut. Mehr verwässert nur die Einkommen.

Es gibt aber mehr gute und für bestimmte Märkte interessante Fahrer als Landeplätze bei den zehn Teams. Verschenkt man da nicht etwas?

Wolff: Das stimmt, aber welches Team würde es denn verdienen an der Champions League im Motorsport teilzunehmen? Wenn ein Hersteller käme, müsste man sicher darüber reden. Aber noch hat kein glaubwürdiger Kandidat angeklopft.

Nach einem Jahr Erfahrung mit dem Kostendeckel: Was war die größte Herausforderung aus Sicht eines großen Teams wie Mercedes, das sich einschränken musste?

Wolff: Dass wir eine Umstrukturierung durchführen mussten, die nicht nur Menschen betroffen hat, sondern auch essenzielle Prozesse mussten verändert werden. Wir haben beispielswiese zum ersten Mal Financial Engineers ausbilden müssen, die über die gesamte Wertschöpfungskette Kosteneinsparungen identifizieren.

Wo mussten Sie am meisten den Rotstift ansetzen?

Wolff: Es gibt keinen Kostenfaktor, der am meisten betroffen war. Wir haben es durch alle Bereiche durchgezogen und dabei versucht, so wenig wie möglich Performance zu verlieren.

Gab es Momente, wo Sie gedacht haben: Wenn wir jetzt noch das Geld von früher ausgeben dürften, hätten wir dies und das anders gemacht?

Wolff: Ja, klar. Wir hätten zum Beispiel neue Chassis gebaut. Oder eine neue Hinterachse homologiert, damit wir das Auto stärker anstellen können.

Porsche & Audi - F1 - Sean Bull Design
Sean Bull Design

Die Formel 1 bastelt seit eineinhalb Jahren an einem neuen Motor-Reglement, das dann erst 2026 kommen soll: Warum braucht man vier Jahre, um einen neuen Motor zu bauen?

Wolff: Die Entwicklungszeit bei einem Automobilhersteller dauert einfach so lange. Das ist ein ganz neuer Antrieb mit nachhaltigem Kraftstoff. Wenn du das vernünftig machst, braucht das seine Zeit.

Sind Sie mit den Eckpunkten des Reglements zufrieden?

Wolff: Die großen Themen stehen, aber es gibt noch ein paar Knackpunkte, die noch ausverhandelt werden müssen.

Zum Beispiel ein Budgetdeckel für Motorenhersteller. Wo müsste der liegen?

Wolff: Bei 70 Millionen Dollar. Ab dem Moment, an dem der neue Motor fertig ist.

Es wurde lange am technischen Reglement gefeilt, auch um es Neueinsteigern nicht zu leicht zu machen. Haben die etablierten Hersteller Angst vor Audi und Porsche?

Wolff: Überhaupt nicht. Es wäre sensationell, wenn die beiden dazustoßen. Das muss man auch unterstützen. Aber wir wollten auch sicherstellen, dass die drei aktuellen Hersteller respektiert werden, wenn das Regelwerk entwickelt wird.

Sie haben nächstes Jahr mit George Russell den "englischen Verstappen" an Bord. Wird es schwerer werden, das interne Duell unter Kontrolle zu halten?

Wolff: Ich würde mir wünschen, dass wir zwei pfeilschnelle Fahrer haben, die um den Sieg fahren. Und wenn nicht, dann brauchen wir diese Fahrer, um unser Auto zurück auf die Siegerstraße zu bringen.

Hat Hamilton die Größe, eine Niederlage gegen einen jungen Fahrer wie Russell wegzustecken?

Wolff: Die Größe von Lewis wird oft zu Unrecht hinterfragt. Selbst nach den Ereignissen in Abu Dhabi, hat er Max sofort gratuliert. Lewis will nur eines: einen fairen Wettbewerb auf der Strecke. Das werden wir liefern.