Da baut sich erster Druck auf. Als Lewis Hamilton realisierte, dass er zum vierten Mal in Folge hinter seinem Teamkollegen ins Ziel kommen würde, bellte der Rekordsieger am Funk: "Eure Strategie war nicht nett zu mir." Kurz vorher hatte ihn George Russell im zweiten Versuch mit den frischeren und weicheren Reifen überholt. Es tut weh, vom Feind im eigenen Team geschlagen zu werden, egal wie die Umstände sind. Und dieser Russell ist nicht irgendein Teamkollege. Er gilt als Weltmeister von morgen. Und Hamilton ist der Platzhirsch.
Chefstratege James Vowles musste seinen Starpiloten erst einmal beruhigen und ins rechte Licht setzen. Das Safety Car in Runde 41 brachte Hamilton ins Hintertreffen, nicht die Strategie. Es war für Russell, der von Startplatz 12 mit den harten Reifen gestartet war, ein Geschenk. So bekam er einen Boxenstopp quasi geschenkt und verlor zwar zwei Positionen an Bottas und Hamilton, aber keine Zeit. Für die verbleibenden elf Runden unter Renntempo hatte er die weicheren und frischeren Reifen.

Hamilton hätte gerne harte Reifen gehabt
Der Mercedes-Kommandostand ließ Hamilton die Wahl auch Reifen zu wechseln, doch das hätte ihn automatisch die Position an Russell gekostet. Worüber er sich dann auch beschwert hätte. So konnte er sich wenigstens auf der Strecke verteidigen. Und so schlecht waren die harten Reifen auch nicht, die ihm das Team in Runde 22 mit auf die Reise gegeben hatte. "Besser waren nur Medium-Reifen, die nicht älter als sechs Runden waren", verglichen die Ingenieure. Und die hatte Russell dank der glücklichen Fügung des Safety Cars am Auto.
Als Hamilton nach dem Rennen das ganze Bild sah, meinte er kleinlaut: "Als Fahrer hast du nicht den Überblick wie die Ingenieure an der Boxenmauer. Ich habe ihnen die Entscheidung überlassen. Im Rückblick war der harte Reifen am Start der bessere Reifen. Ich hätte es auch machen sollen." Die Ingenieure widersprachen. Wer wie Hamilton vom 6. Platz ins Rennen ging, musste mit den Wölfen heulen und die weichere der beiden Reifenoptionen nehmen. Hamilton wäre auf harten Reifen beim Start vermutlich das gleiche passiert wie seinem Stallrivalen sechs Positionen weiter hinten. Der verlor in der ersten Runde zwei Plätze, weil die harten Reifen nur zögerlich auf Temperatur kamen.
Safety Car war Russells Chance
Der Trainingssieg über Russell war nur kurzfristig Balsam auf die Wunden eines Fahrers, der jedes dritte Formel-1-Rennen seiner Karriere gewonnen hat. Nach WM-Punkten steht es jetzt 59:36 für Russell. Und der junge Teamkollege wird mit jedem Rennen mutiger, erfahrener und abgezockter. Da kratzt jede Niederlage am Lack des Rekordsiegers.
Russells Strategie war nach der schlechten Startrunde in Stein gemeißelt. Er musste so lange wie möglich auf der Strecke bleiben und hoffen, dass ihm der Rennverlauf einen Ball zuspielen würde. Die harten Reifen wurden mit zunehmendem Verschleiß immer schneller. In dieser Phase meldete sich der 24-jährige Engländer am Funk und bat, dass er so lange wie möglich auf einen Safety Car warten wolle. "Als es dann kam, sah ich wie ein Genie aus. Aber es war klar, dass es meine einzige Chance war." Die Strategen verrieten, dass man im Notfall bis fünf Runden vor Schluss gewartet hätte.

Mercedes-Fahrer loben sich gegenseitig
Zum direkten Duell mit Hamilton hielt sich Russell klug zurück. Nur keinen Konfliktstoff vom Zaum brechen. "Wenn du mit deinem Teamkollegen kämpfst, musst du etwas mehr Platz lassen und Respekt zeigen. Ein Mal war ich schon vorbei, bin aber neben die Ideallinie gerutscht und musste den Platz wieder hergeben, weil es da glatt wie auf Eis war. So musste ich die Arbeit ein zweites Mal erledigen. Lewis hatte das Glück nicht auf seiner Seite. Mit seinen alten Reifen konnte er nicht viel Gegenwehr bieten."
Hamilton lobte Russell für sein gutes Rennen, betonte aber auch, dass die Umstände mal wieder gegen ihn waren und dass es nun mal an der Zeit wäre, dass sich das ändert. Er machte aber auch klar, wie schwer es ihm fällt, um fünfte oder sechste Plätze zu fahren: "Wir fahren immer noch ein Rennen, auch da wo wir jetzt sind. Es hat sich nur die Perspektive geändert."
Das Samstagauto zum Sonntag
Die Hoffnung des Teams, dass sich der Mercedes am Sonntag wieder in den vom Freitag verwandelt, wurde enttäuscht. "Wir waren wie am Samstag eine Sekunde pro Runde zu langsam. Obwohl der Wind anders stand, die Temperaturen gesunken waren und im Rennen langsamer gefahren wird als in der Qualifikation", bedauerten die Ingenieure. Immerhin habe man wieder viel gelernt, habe jetzt endlich Vergleichsdaten mit einem Auto das einen Tag lang funktioniert hat und werde in Barcelona weitere Experimente unternehmen, um das Rätsel zu lösen.
Das Bouncing hatte sich im Rennen wieder weitgehend gelegt, was aber nicht viel half, weil die Autos zu hoch standen, um genau das zu verhindern. Russell rätselte: "Wir waren die einzigen, die sich nach dem Freitag nicht mehr steigern konnten. Wenigstens wissen wir jetzt, dass unser Auto schnell ist. Uns fehlt nur der Schlüssel, das Potenzial zielsicher abzurufen."
Teamchef Toto Wolff kündigte zwar an, dass man bald eine Entscheidung treffen müsse, welchen Weg man für 2023 gehen soll, räumt aber auch ein, dass diese Konzeptentscheidung nicht so einfach ist. "Dazu müssen wir erst einmal verstehen, ob an dem Konzept etwas falsch ist und warum. Es macht keinen Sinn auf etwas anderes umzuschwenken, ohne zu wissen auf was."