Das Duell zwischen Red Bull und Ferrari ist weiterhin eine Angelegenheit von Zehntelsekunden. Die beiden Autos egalisieren sich mit unterschiedlichen Qualitäten. Und das mindestens eine halbe Sekunde vor dem Rest des Feldes. Trotz der Ausgeglichenheit gehen sieben Siege an Red Bull und zwei an Ferrari.
Seit dem GP Australien hat Ferrari nicht mehr gewonnen. Oft haben externe Faktoren das Kopf-an-Kopfrennen entschieden. In Barcelona und Baku waren es Motorprobleme im Auto von Charles Leclerc. In Monte Carlo scheiterte die Strategie. Und in Montreal waren es die Folgen der Motormisere. Aus der letzten Startreihe konnte Leclerc nicht gewinnen. Er hätte es aber gekonnt, wäre er dort losgefahren, wo er schon sechs Mal in dieser Saison losgefahren ist. Von ganz vorne.
Zum ersten Mal in dieser Saison musste Max Verstappen auch den anderen Ferrari fürchten. Sainz saß am Sonntag im schnelleren Auto. Der Spanier schätzte seinen Vorteil auf drei Zehntel. Zum Überholen hätte er sechs Zehntel gebraucht. Im Topspeed lagen beide Autos an diesem Tag innerhalb von 0,7 km/h. Genugtuung für Ferrari: Der Getriebeschaden von Sergio Perez bewies, dass Zuverlässigkeit ein Schreckgespenst für beide WM-Rivalen ist.

Ferrari im Renntrim besser
Nach dem Rennen suchten beide Teams nach Gründen, warum sich die Gesetzmäßigkeiten in Montreal umgedreht hatten. Normalerweise ist das Kräfteverhältnis spiegelverkehrt. Der Ferrari ist ein bisschen besser auf eine Runde, der Red Bull über die Distanz. Eine schlüssige Antwort konnte keiner der Beteiligten liefern. Nur Beobachtungen. Verstappen hatte auf den Medium-Reifen mehr Körnen vorne und verlor auf den Hinterreifen schneller den Grip als der Ferrari in seinem Rückspiegel. Aber er hatte die Klasse, die Defizite auszugleichen.
Der Rennverlauf spricht für das bessere Reifenmanagement bei Ferrari. Das kann mehrere Ursachen haben. Red Bull musste nach dem dritten Training am Samstag Änderungen am Setup vornehmen. Die Red Bull brachten ihre Regenreifen nicht auf Temperatur, und es war absehbar, dass es auch in der Qualifikation regnen würde. Verstappens Pole Position zeigte eindrücklich, dass die Ingenieure eine Lösung gefunden haben. Aber war das auch gut für ein Trockenrennen auf grüner Strecke? Es sieht so aus als hätten die Reifen unter den völlig anderen Bedingungen mehr gelitten.
Auf der anderen Seite konnte sich Leclerc am Freitag zu hundert Prozent der Rennvorbereitung widmen. Er wusste schon kurz nach Baku, dass Ferrari eine Motorenstrafe nehmen würde. Es machte also keinen Sinn, für ihn auf Zeitenjagd zu gehen. "Es ist für einen Fahrer frustrierend, wenn er weiß, dass er von hinten losfahren muss. Aber Charles hat das sehr gut weggesteckt", lobte Teamchef Mattia Binotto. Leclercs Erfahrungen vom Freitag halfen im Rennen auch Sainz.
VSC-Phasen genutzt
Der Spanier im Team zeigte in Montreal seine beste Saisonleistung. Zum ersten Mal hatte er volles Vertrauen in seinen Ferrari F1-75 gefasst, dessen Stärke viel Grip auf der Vorderachse ist, was das Heck manchmal etwas unruhig werden lässt. "Ich habe mich viel wohler im Auto gefühlt als zuvor und konnte zum ersten Mal von der ersten bis zur letzten Runde ans Limit gehen", bestätigte Sainz.
Verstappen hatte in den letzten 16 Runden keine Sekunde Ruhe. "Carlos hing ständig im DRS-Bereich. Immer wenn ich am Kurvenausgang in den Spiegel geschaut habe, war der Ferrari formatfüllend da. Aber eine echte Überholchance hatte er nie." Teamchef Christian Horner lobte seinen Starpiloten: "Max hat eine Glanzleistung gezeigt. Er hat bei all dem Druck nicht den geringsten Fehler gemacht."
In einem Rennen mit zwei VSC-Phasen und einem echten Safety Car waren auch die Strategen gefragt. In der ersten VSC-Phase griff Red Bull zu. "Wir wollten wegen des Körnens unsere Medium-Reifen schnell los werden", erklärte Horner. Ferrari ließ Sainz auf der Strecke in der Hoffnung, dass der Grand Prix noch weitere Geschenke anbieten würde. In Runde 20 war es so weit. Sainz griff zu.

Soft-Reifen besser für Sainz
Das Reifendelta von elf Runden zugunsten von Ferrari begann sich schnell bemerkbar zu machen. Sainz fuhr in kleinen Schritten die Lücke zu. Von 9,4 auf 5,9 Sekunden. Je lauter Verstappens Klagen über nachlassende Reifen wurden, umso klarer war auch, dass er noch einen zweiten Stopp brauchen würde. Und Sainz? Er musste das Risiko eingehen, auf der Strecke zu bleiben, als sich Verstappen in Runde 43 eine zweite Garnitur harter Reifen abholte und mit einem Rückstand von 10,8 Sekunden ins Rennen zurückkehrte. Zu seinem Erstaunen auch noch hinter Lewis Hamilton.
Der Mercedes war schnell überholt. Der Abstand zu Sainz schrumpfte bis auf 7,7 Sekunden, als Yuki Tsunoda eine Safety Car-Phase auslöste. Ferrari griff zu, auch wenn Sainz damit die Führung verlor. Die Strategen stellten sich noch die Frage, ob soft oder hart, griffen dann aber zur konservativen Variante. "Im Rückblick hätten wir vielleicht den Soft-Reifen probieren sollen", warf Sainz ein. "Wir haben nicht erwartet, dass das Safety Car so lange draußenbleibt und damit die Restdistanz im Renntempo schrumpft. Über 16 Runden wäre der Soft wahrscheinlich der bessere Reifen gewesen und hätte mir eine bessere Chance gegeben, Max anzugreifen."
Für Verstappen kam die Safety-Car-Phase ungelegen, auch wenn er dadurch die Spitzenposition kampflos zurückbekam. "Sie machte mich vom Angreifer zum Verteidiger mit etwas älteren Reifen. Ich greife lieber an." Die Frage, wer ohne das Safety Car gewonnen hätte, traute sich Horner mit einem klaren "Wir" zu beantworten. Zehn Runden vor Schluss hätte man Sainz eingeholt, sagte die Simulation.
Binotto war sich da nicht so sicher. "Es wäre auf jeden Fall eng geworden, so wie Max aufgeholt hat. Wir hätten außerdem auch ohne Safety Car einen zweiten Stopp in Betracht gezogen, um uns gegen Hamilton abzusichern."