Die Szene, um die es geht, lief nie über das Weltbild auf den TV-Bildschirmen. Es musste ein Fan die Aufnahmen von Pierre Gaslys Bordkamera auf Twitter stellen, um zu erfahren, was da in der zweiten Runde in Kurve 12 passiert ist. Die Formel 1 hätte den Zwischenfall am liebsten in der Asservatenkammer verschwinden lassen. Der Sport schrammte haarscharf an einer Katastrophe vorbei, die stark an den Unfall 2014 erinnerte, der Jules Bianchi das Leben kostete.
Bianchi war bei gelben Flaggen in Kurve 7 mit über 200 km/h von der Strecke abgekommen und in einen Bergekran gerast. Der Franzose erlitt beim Aufprall in das tonnenschwere Gefährt schwerste Kopfverletzungen und starb neun Monate später in einer Klinik in Nizza. Danach verschärfte die FIA die Regeln für gelbe Flaggen und die Bedingungen unter denen fremde Fahrzeuge auf die Strecke gelassen werden dürfen.

Fahrer warnen Rennleitung
Jedes Mal wenn die Formel-1-Gemeinde nach Suzuka zurückkehrte, wurde sie an die tragischen Ereignisse vom 5. Oktober 2014 erinnert. Auch in diesem Jahr warnten die Fahrer beim Freitagsbriefing im Vorfeld des GP Japan die Rennleitung und Sportkommissare, dass besonders in Suzuka beim Einsatz von schwerem Gerät besondere Vorsicht angesagt sei. Die FIA schien wenig daraus gelernt zu haben.
Das schien in der turbulenten Anfangsphase des Rennens schon wieder vergessen. In der ersten Runde flog Carlos Sainz bei hoher Geschwindigkeit in Kurve 12 mitten im Feld ab und kam quer zur Strecke zum stehen. Dabei riss der Spanier eine Werbebande ab, die zusammen mit Fahrzeugteilen den Unfallort zu einem Trümmerfeld machten. Fast gleichzeitig wurde in unmittelbarer Nähe der Alfa-Sauber von Guanyu Zhou umgedreht und rollte der Williams von Alexander Albon mit einem Motorschaden aus. Es gab im Turm der Rennleitung viel zu entscheiden in wenig Zeit.
Zwei Meter Abstand zum Kran
In der Gischt waren die Fahrer im kompletten Blindflug unterwegs. Selbst Spitzenreiter Max Verstappen nannte die Bedingungen als "grenzwertig". Lewis Hamilton erzählte seinem Team, dass er den querstehenden Ferrari von Sainz nicht einmal bemerkt habe. Er fuhr um Zentimeter daran vorbei. Gasly, der aus der Boxengasse gestartet war und als letzter am Ort des Geschehens vorbeikam, sammelte ohne Vorwarnung das Plakat auf und schleppte es mit bis in die Boxengasse, wo er sich einen neuen Frontflügel abholte. Die Rennleitung hatte in der Zwischenzeit bereits das Safety Car auf die Strecke geschickt.
Das sammelte das komplette Feld ein, bis auf Gasly, der seinen Kollegen nach dem Boxenstopp mit rund 28 Sekunden hinterhereilte. Als sich der Alpha-Tauri-Pilot dem Unfallort näherte, gingen rund um den Kurs und auf seinem Display die roten Lampen als Zeichen für Rennabbruch an. Und Gasly hatte eine Begegnung der unheimlichen Art: "Ich komme mit 200 km/h um die Kurve herum und sehe plötzlich einen Bergekran auf der Rennlinie stehen. Ich hatte höchstens zwei Meter Abstand zu ihm. Hätte ich gebremst oder scharf gelenkt, hätte ich mich gedreht und das Fahrzeug mit vollem Speed getroffen. So wie Jules vor acht Jahren."

Strafe für Gasly
Nach seiner Rückkehr an die Boxen statte der Franzose der Rennleitung wutentbrannt einen Besuch ab. Doch dort kanzelte ihn Rennleiter Eduardo Freitas ab, dass er sich nicht so anstellen solle. Er hätte ja an der Unfallstelle, die er von der Runde davor schon kannte, den Fuß vom Gas nehmen können. Immerhin galten bis zum Abbruch noch die Safety-Car-Regeln. Als Quittung bekam Gasly eine Vorladung zu den Sportkommissaren zugestellt, die ihm vorwarfen, dass er trotz roter Flagge den Rest der Runde mit über 200 km/h zu den Boxen zurückgekehrt sei und damit jederzeit auf Streckenfahrzeuge hätte treffen und Helfer gefährden können.
Gaslys Einlassung, dass er vor der roten Flagge über neun Sekunden über der geforderten Delta-Zeit gelegen habe und dass die rote Flagge in dem Moment gezeigt worden sei, als er den Bergekran passierte, wurden als entlastende Momente gewertet. Trotzdem bekam er 20 Sekunden, das Äquivalent einer Boxenstrafe aufgebrummt.
Was den Vorfall angeht konnte sich der Monza-Sieger von 2020 gar nicht beruhigen. "Wir haben vor acht Jahren einen Freund verloren und uns alle geschworen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Und gerade in Suzuka sollten wir dafür sensibilisiert sein. Und dann passiert es doch wieder. Ich bin dankbar, dass ich noch lebe und mit meiner Familie sprechen kann. Ich hätte genauso gut tot sein können, wenn ich zwei Meter weiter links gefahren wäre. Das ist vor dem Hintergrund von Bianchis Tod absolut inakzeptabel."