Auf der Position des Formel-1-Rennleiters will man eigentlich keine ständigen Wechsel. Für die Teams und Fahrer ist es wichtig, immer den gleichen Ansprechpartner zu haben, der konstante Entscheidungen trifft, auf die man sich verlassen kann. Doch nach dem unrühmlichen Abgang von Michael Masi nach dem Skandal-Finale 2021 in Abu Dhabi ist nun auch der Nachfolger weg, und das mitten in der Saison.
Wie die FIA in einem kurzen Presse-Statement mitteilte, sei Niels Wittich von seiner Position als Formel-1-Rennleiter zurückgetreten, um sich neue Herausforderungen zu suchen. "Niels hat seine zahlreichen Aufgaben als Rennleiter professionell und engagiert erfüllt. Wir danken ihm für seinen Einsatz und wünschen ihm alles Gute für die Zukunft", heißt es in der knappen Mitteilung.
Doch das war offenbar nur die halbe Wahrheit. Wie die Kollegen von Motorsport-Magazin.com herausgefunden haben, ist Wittich gar nicht freiwillig gegangen, sondern knallhart rausgeworfen worden. Der 52-jährige Hesse soll sich demnach gerade auf der Anreise zu einem FIA-Termin in Genf befunden haben, als ihm mitgeteilt wurde, dass er seinen Job los ist.
Ein Nachfolger ist auch schon gefunden. Rui Marques, der bisher die Rennleiter-Funktion in den Nachwuchsserien Formel 2 und Formel 3 innehatte, wird schon ab dem kommenden Grand Prix in Las Vegas in die Königsklasse aufsteigen. Der Portugiese soll ein enger Vertrauter von Eduardo Freitas sein, der sich die F1-Rennleiter-Position in der Saison 2022 kurz mit Wittich geteilt hatte.

Über die Rennleitung gab es zuletzt wenig Diskussionen. Trotzdem musste Wittich gehen.
Wittich ohne grobe Fehler
Die große Frage lautet, warum Wittich gehen musste. Bis auf die etwas zu spät aktivierte VSC-Phase am Ende des Rennens in Baku unterliefen dem Deutschen in letzter Zeit keine größeren Fehler. Die viel diskutierten Zweikampf-Strafen von Austin und Brasilien und die anschließende Kritik an den Überhol-Regeln kann man Wittich übrigens nicht anlasten. Hier handelte es sich um Urteile der FIA-Kommissare.
Und wenn es doch mal strittige Entscheidungen der Rennleitung gab, hatte der FIA-Oberschiedsrichter stets gute Erklärungen. So bemängelte Red Bull zum Beispiel, dass nach dem Unfall von Lance Stroll am Ende der zweiten Quali-Runde von São Paulo zu spät abgebrochen wurde. Wittich wartete mehr als 50 Sekunden, weil es zunächst so schien, dass Stroll seine Fahrt aus eigener Kraft fortsetzen kann. Bei heftigeren Unfällen, die den FIA-Alarmsensor (>15g) auslösten, wurden stets sofort die roten Flaggen geschwenkt.
Am frühen Ausscheiden von Max Verstappen im Q2 hätte übrigens auch eine schnellere Reaktion nichts geändert, auch wenn die Red-Bull-Verantwortlichen das später suggerierten. Der Weltmeister rutschte schon zwei Sekunden nach dem Stroll-Crash auf Rang 11 in die K.O.-Zone ab, ohne eine Chance sich selbst zu verbessern. Dass anschließend noch fast 50 Sekunden bis zum Abbruch vergingen, spielte also gar keine Rolle.

Vor allem wegen der Schimpfwort-Strafen geriet Mohammed bin Sulayem zuletzt ins Visier der Piloten. Will er die Fahrer mit dem Wittich-Rauswurf besänftigen?
Bauernopfer des FIA-Präsidenten?
Der wahrscheinlichste Grund für den Rauswurf von Wittich sind Unstimmigkeiten mit den Piloten in den Fahrerbriefings. Der großgewachsene FIA-Funktionär agierte zum Beispiel bei Themen wie Schmuck und feuerfeste Unterwäsche sehr penibel und ließ keine Diskussionen zu. Seine Vorgänger zeigten sich hier deutlich umgänglicher. Hinter vorgehaltener Hand warfen einige Fahrer Wittich ein oberlehrerhaftes Verhalten vor. Sie fühlten sich wie kleine Kinder behandelt.
Genau dieses Verhalten wurde zuletzt auch von der Fahrergewerkschaft (GPDA) in einem offenen Brief kritisiert. Die Vorwürfe waren dabei aber weniger an den Rennleiter gerichtet, sondern direkt an FIA-Präsident Mohammed bin Sulayem. Gut möglich, dass der Boss des Weltverbands mit Wittich nun ein leichtes Bauernopfer gefunden hat, um die Fahrer zu besänftigen und sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen.