Low oder high rake: Wem schaden neue Aero-Regeln?

Wem schaden neue Aero-Regeln?
„Bräuchten ein Paralleluniversum“

Es ist eine Frage, die noch keine finale Antwort kennt: Schaden die neuen Regeln zur Aerodynamik den Autos mit einem tiefen Heck mehr als denen mit einer hohen Anstellung hinten? Aston Martin ist jedenfalls davon überzeugt. "Es ist klar, dass die neuen Regeln Teams wie uns härter getroffen haben", meckert Teamchef Otmar Szafnauer. Zur Fraktion der tiefen Anstellung gehört auch Mercedes. Auf der anderen Seite der Skala befinden sich Red Bull und Alpha Tauri mit einem Heck, das hoch in den Federn steht. Sechs Teams liegen zwischen den Extremen – mal mehr, mal weniger.

Aus Szafnauers Aussagen hört man nach nur einem Grand Prix bereits einen Schuss Verzweiflung heraus. Die Konkurrenz kontert. Keiner sei von den neuen Regeln überrascht oder bewusst benachteiligt worden. Der dreiecksförmige Ausschnitt vor den Hinterrädern sei einstimmig im letzten Jahr in der Corona-Pause beschlossen worden. Alle Teams saßen damals mit am Tisch.

Im August kamen weitere Beschlüsse hinzu: keine Slots mehr im Unterboden plus gekappte Bremsbelüftungen und ein kastrierter Diffusor. Die FIA brachte sie unter dem Deckmantel der Sicherheit auf den Weg, um den Autos in Summe etwa zehn Prozent Abtrieb zu rauben – im Austausch mit den Teams.

McLaren-Technikchef James Key will deshalb nichts von einer Benachteiligung eines bestimmten Konzepts wissen: "Wenn der Anstellwinkel überhaupt einen Einfluss hat, dann nur einen kleinen. Wir haben alle in der Entwicklung für 2021 mit einem Auto angefangen, dass eine Sekunde langsamer war als im Vorjahr. Entscheidend ist, wie man von dort weiterentwickelt hat." Mit anderen Worten: Wer es nur auf die Aerodynamik-Philosophie schiebt, macht es sich zu einfach.

Sebastian Vettel - Aston Martin - GP Bahrain - 2021
Aston Martin

Dilemma für Aston Martin

Aston Martin steht nach dem Saisonauftakt bereits mit dem Rücken zur Wand. Mit dem Traditionsnamen wollte der ehemalige Racing-Point-Rennstall in dieser Saison eigentlich das nachholen, was 2020 nicht geklappt hat. Der dritte Platz in der Team-WM soll her. Und dazu noch viele Podestplätze, und mit Glück sogar den einen oder anderen Sieg. So der Plan. Das Rennteam als Marketing-Turbo für den Verkauf der Straßensportwagen: Dieses Projekt droht 2021 zu scheitern.

Die Ungeduld ist schon jetzt spürbar. Firmenchef Lawrence Stroll will Ergebnisse sehen. Besser gestern als heute. Dafür muss der AMR21 schnell besser werden. Doch in der Formel 1 gibt es keine Abkürzungen. Wenn es nicht an der Rennstrecke lag, hat Aston Martin ein Problem. Die Saison wird man nicht abschreiben können. Das würde die Marketing-Strategie konterkarieren. Also braucht es Entwicklungen, um den Rückstand aufzuholen. Mehr als die Konkurrenz bringen wird.

Der Preis könnte ein hoher sein. Je mehr Zeit man mit dem 2021er Auto im Windkanal aufwendet, desto weniger bleibt für das 2022er Auto übrig. Das wird Auswirkungen haben. Wer im nächsten Jahr mit einem völlig neuen Reglement auf dem falschen Fuß startet, der dürfte auch die Jahre danach leiden. Weil die Konkurrenz immer einen Schritt voraus ist. So verhielt es sich zumindest in der Vergangenheit. Wer da bei einer Reglements-Reform im Hintertreffen war, blieb zurück.

Alfa-Romeo-Sauber ist so ein Beispiel: "2017 war die letzte große Reglementsänderung. Aus unterschiedlichen Gründen hat das Team seine Arbeit nicht richtig machen können. Das Auto war viereinhalb, fünf Sekunden hinter allen. Wir leiden jetzt immer noch darunter", sagt Technikchef Jan Monchaux und spielt auf das fehlende Geld an. "Wenn Sie mit so einem Handicap unter diesen Regeln anfangen, ist es vorbei. Das holen Sie nicht wieder auf."

Alpine mit dem Aston-Martin-Problem

Das zweite Team mit einem flach angestellten Heck ist Mercedes. Auch die Weltmeister überzeugten bei den Testfahrten nicht. Man habe im Verhältnis mehr Abtrieb und Stabilität eingebüßt als die Rivalen von Red Bull mit einer hohen Anstellung, heißt es von den Ingenieuren. Der Weltmeister nannte aber noch andere Störfaktoren und fasste sich auch an die eigene Nase. Die neuen Pirelli-Reifen hätten ebenfalls einen Einfluss. Und über den Winter erreichte Mercedes nicht die gesteckten Entwicklungsziele. Der Unterschied: Mit neuem Setup und anderer Zusammenstellung der Aerodynamik-Komponenten leitete Mercedes im Gegensatz zu Aston Martin bereits zum Saisonstart die Wende ein. Keine Klagen, sondern effektive Lösungen.

Mercedes beschränkte sich auf das Bekannte und verzichtete auf Upgrades, um sich selbst nicht zu verwirren. Aston Martin dagegen suchte sein Heil in neuen Finnen auf dem Unterboden, die den Luftstrom so lenken sollen, dass der Diffusor vor den störenden Turbulenzen der Hinterräder geschützt wird. Ohne spürbaren Erfolg. Die Fahrer klagten weiter über zu wenig Grip. Deshalb fraß der AMR21 auch die Hinterreifen.

Mit einem ähnlichn Problem kämpft auch Alpine. Und die Franzosen haben eine andere Aerodynamik-Philosophie. Alpine orientiert sich mit dem A521 eher an Red Bull und stellt das Heck hoch. Trotzdem kommt man noch auf keinen grünen Zweig. An der Rennstrecke wurde mittels Rapide Prototyping schnell die ein oder andere Finne produziert, die dann auf den Unterboden geklebt wurde. Doch in der kurzen Trainingszeit am Freitag verirrte sich Alpine. Man rannte wie Aston Martin dem vorderen Mittelfeld hinterher. Alpha Tauri und Ferrari zogen vorbei. Und zumindest optisch fährt Ferrari mit weniger Anstellung.

Yuki Tsunoda - Alpha Tauri - Formel 1 - Test - Bahrain - 13. März 2021
Motorsport Images

Unterschiede im Millimeter-Bereich

Bis vor dieser Saison war es einfacher, den Diffusor zu versiegeln. Die vertikalen und horizontalen Slots im Unterboden sowie die Aufbauten und der geringe Abstand der Bodenplatte zu den Hinterreifen gaben den Aerodynamikern dafür die richtigen Werkzeuge in die Hand. Da ließ sich die Strömung von vorne bis hinten einfacher kontrollieren.

Jetzt fehlen vor der Hinterrädern in der Breite zehn Zentimeter, die Autos mit einer geringen Anstellung laut ihrer Teams dringender brauchen. Mercedes und Aston Martin versuchen, diesen Teil künstlich über Wirbelschleppen nachzubilden. Die Wellen im vorderen Teil des Unterbodens sollen dafür sorgen. Das Problem: Dieser Bereich lässt sich im Windkanal schwer nachbilden. Da kann es bei der Korrelation haken.

In der Theorie sollte die tiefe Anstellung doch eigentlich ein Vorteil sein, könnte man denken. Schließlich ist der Abstand zum Untergrund kleiner. Autos mit einem hohen Heck haben eine größere Expansionsfläche des Diffusors zu versiegeln, auch wenn wir hier nur von Unterschieden um die 50 Millimeter sprechen. Manche im Fahrerlager sagen sogar, der Unterschied zwischen High rake und Low rake liege nur bei 15 bis 25 Millimeter.

So einfach ist es nicht. Das Gesamtpaket ist entscheidend, beginnend mit dem Frontflügel. Um es einfach zu sagen: Das Heck kann nur auf dem Asphalt kleben, wenn der Vorderbau die Luft richtig aufgleist. Alpines Technikchef Marcin Budkowski erklärt: "Wir spielen da mit komplexen Luftströmungen und Interaktionen mit anderen Komponenten herum. Deshalb wäre die Theorie zu einfach. Es geht darum, diese Interaktionen in den Griff zu bekommen. Und das ist nicht so einfach, weil das Strömungsbild schon bei der Nase des Autos aufgebaut wird und sich nach hinten fortsetzt." Zu diesen Interaktionen gehören auch die geänderten Reifen, die sich leicht anders deformieren und damit Auswirkungen auf die Aerodynamik haben.

Mercedes - Technik-Details - Formel 1 - 2021
xpb/Motorsport Images

Red Bull nicht mehr windanfällig

Je höher das Heck, desto größer die Expansionsfläche des Diffusors. Das steigert den Abtrieb, jedoch auch die Komplexität der Aufgabe, weil es die Gefahr einer unkontrollierten Strömung erhöht. Deshalb kämpfte Red Bull seit Jahren auch mit einem im Vergleich zu Mercedes instabilen Heck. Erst jetzt haben es die Ingenieure gezügelt. Selbst die Windanfälligkeit gehört der Vergangenheit an. Plötzlich schlagen sich Mercedes und Aston Martin damit herum.

Red Bulls Sportchef Helmut Marko merkt süffisant an. "Ich glaube, es geht um das Gesamtpaket. Man muss auch die Reifen einkalkulieren. Und die Windempfindlichkeit spricht eigentlich gegen einen hohen Anstellwinkel. Als aerodynamischer Spezialist, der ich bin, würde ich sagen: Wenn das so hoch raufsteht, ist die Windempfindlichkeit höher."

Es wird wohl mindestens ein paar Rennen dauern, bis sich wirklich herauskristallisiert, ob die neuen Regeln tatsächlich ein Nachteil sind für Autos mit tiefem Heck. Alfas Technikchef Monchaux zweifelt, ob wir überhaupt jemals eine echte Antwort erhalten. "Um das wirklich vernünftig zu beantworten, bräuchten Sie ein Paralleluniversum, in ein Mercedes oder Red Bull mit der gleichen Truppe, mit der gleichen Intensität in der gegebenen Zeit von acht Monaten versuchen, ein Auto mit einem komplett anderen Konzept zu erarbeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Auto mit mehr oder weniger Rake anders reagiert. Dass es am Ende eine halbe Sekunde ausmacht, glaube ich nicht."