Mercedes-Experimente: Konzept-Entscheidung bis Ungarn

Mercedes im Experiment-Modus
Konzept-Entscheidung bis Ungarn

GP Aserbaidschan 2022

Mercedes bleibt weiter die dritte Kraft im Feld, auch wenn es phasenweise so aussah, als könnten McLaren, Alpine oder Alpha Tauri den Silberpfeilen in Baku gefährlich werden. Am Ende rettete auch die Qualität der Fahrer Mercedes davor, tiefer ins Verfolgerfeld abzurutschen. Mit den Startplätzen 5 und 7 ist der Konstrukteurs-Weltmeister der letzten acht Jahre gut bedient. Weil alte Schwachstellen neu aufgebrochen sind.

George Russell und Lewis Hamilton saßen wieder in echten Schaukelpferden. Speziell auf der 2,2 Kilometer langen Zielgeraden. Es war eine Mischung aus aerodynamisch erzeugtem Bouncing und hochfrequentem Schütteln über die wellige Fahrbahn. "Teilweise war es so schlimm, dass ich die Bremspunkte nicht richtig sehen konnte", berichtete Russell. Das starke Aufsetzen sorgte in Verbindung mit einem zu großen Heckflügel für zu hohen Luftwiderstand zu großen Zeitverlust auf den Geraden.

Mit 334,0 und 333,7 km/h lagen Hamilton und Russell in der Topspeed-Rangliste auf den Plätzen 17 und 18. Im letzten Sektor, der hauptsächlich aus Vollgas besteht, verlor Russell vier Zehntel auf die schnellsten Autos. "Eine zweite Schwachstelle von uns", verrät Teamchef Toto Wolff, "sind die Kurve 15 und 16." Die Ingenieure führen es darauf, dass die Schaukelei der Autos sie zu Setups zwingt, die sich auch in gewissen Kurven rächen. Trotzdem beharrte Russell: "In den Kurven fühlt sich das Auto gut an. Die Runde war gut. Leider der Abstand zur Spitze nicht."

Lewis Hamilton - Mercedes - GP Aserbaidschan 2022 - Baku
Wilhelm

Hamilton spielt Versuchskaninchen

Unter den Umständen fragt man sich im Team, ob Barcelona eine Eintagsfliege war. Hamilton konnte dort im Rennen immerhin den Speed der Red Bull und Ferrari mitgehen. "Barcelona ist eine klassische Rennstrecke mit glattem Asphalt und wenig Bodenwellen und Schlägen. Und damit wenig Bouncing. Auf diesem Typ Rennstrecke ist unser Auto gut. Monte Carlo und Baku bieten genau das, was für unser Auto im Moment noch Gift ist, und Montreal wird in einer Woche in der Hinsicht wahrscheinlich unsere härteste Prüfung", gibt Wolff zu.

Die Ingenieure bestätigen: "Das Auto, das wir in Baku haben, ist identisch mit dem von Barcelona. Auf einer Strecke sind wir drei Zehntel hinter der Spitze, hier in Baku 1,3 Sekunden. Das wirft die Frage auf, ob uns Barcelona geschmeichelt hat und wir dort hauptsächlich wegen der Strecke nicht die Probleme hatten, die uns anderswo immer noch bremsen. Oder ob wir etwas nicht verstanden haben."

Um das herauszufinden fährt Mercedes gerade im Experimentier-Modus. Das erklärte auch Hamiltons fünfte Quali-Niederlage gegen Russell. "Lewis hat eine andere Spezifikation des Unterbodens probiert. Es hat nicht funktioniert", verteidigt Wolff seinen Superstar, der sichtlich darunter leidet, in dieser Saison nur ein Statist zu sein. Auf der anderen Seite erklärt sich Hamilton gerade bei jedem Rennen dazu bereit, für die Ingenieure den Testpiloten zu spielen. In der Hoffnung, die Saison doch noch umzubiegen.

Lewis Hamilton - Mercedes - GP Aserbaidschan 2022 - Baku
Wilhelm

Im Windkanal das schnellste Auto

Mercedes steuert auf den Moment zu, an dem eine Entscheidung für 2023 fallen muss. Für Toto Wolff ist der Fall klar. "Es gibt vier Quellen dafür, dass wir zu langsam sind. Wir können die Aerodynamik nicht in dem Fenster fahren, in dem sie den Abtrieb liefert, den uns der Windkanal verspricht. Wir haben nicht mehr den Federkomfort und die Federwege der Vergangenheit. Und wir haben auf bestimmten Strecken das Bouncing, das alles andere maskiert. Alles drei zusammen hat zur Folge, dass wir auch die Reifen nicht richtig nutzen." Und dann ist schnell mal eine Sekunde und mehr verloren.

Laut Wolff haben die Ingenieure auch das Hauptübel verstanden: "Wir wissen wie das Bouncing entsteht. Aber wir haben immer noch nicht eine klare Antwort darauf, wie wir es abstellen. Deshalb experimentieren wir. Das ist jetzt wichtiger, als kurzfristig das Auto für eine bestimmte Strecke zu optimieren."

Vor allem vor dem Hintergrund, das bald schon eine Konzeptentscheidung für 2023 fallen muss. Die fällt deshalb so schwer, weil der Mercedes W13 im Windkanal allen anderen Autos überlegen ist. Er kann seine Qualitäten nur nicht auf der Strecke reproduzieren.

Hamilton erfüllt seinen Vertrag

Wolff glaubt, dass man nach der Angststrecke Montreal klarer sehen wird, wie die Antworten für die nächste Upgrade-Runde in Silverstone ausfallen und ob man nach dem GP Ungarn in der Lage sein wird, die Konzeptfrage zu beantworten. Der größte Unsicherheitsfaktor sind dabei die Strecken von Silverstone und Paul Ricard. Dort werden die Mercedes mindestens so gut wie in Barcelona oder sogar siegfähig sein. "Das könnte dann wieder neue Fragezeichen aufwerfen", blickt Wolff voraus.

Eine klare Linie ist wichtig. Auch für Lewis Hamilton. Der siebenfache Weltmeister hätte schon gerne das Gefühl, dass er im nächsten Jahr wieder um seinen achten WM-Titel kämpfen kann. Gerüchte, Hamilton könnte vorzeitig die Flinte ins Korn werfen, erteilt der Teamchef eine Absage. "Lewis ist voll motiviert. Er sucht wie wir alle einen Weg raus aus dieser Situation. Deshalb haben wir keine Zweifel daran, dass Lewis bis Ende 2023 für uns fährt. Bei uns ist für nächstes Jahr keine Türe offen."