Die Formel 1 hat ihr grandioses Finale bekommen. Das WM-Duell zwischen Max Verstappen und Lewis Hamilton entschied sich erst in der letzten Runde. Und doch bleibt ein fader Beigeschmack haften. Nicht allein, weil Mercedes protestiert hat. Sondern vor allem, weil die Rennleitung unter Druck gesetzt wurde.
21 Rennen lang konnten die Rechteinhaber ihr Glück kaum fassen. Die Formel 1 schrieb Schlagzeilen am laufenden Band. Auf und neben der Rennstrecke. Mit epischen Duellen zwischen Max Verstappen und Lewis Hamilton. Mit dem Zwist zwischen Red Bull und Mercedes. Eine Kontroverse jagte in dieser verrückten Saison die nächste.
Das machte die Hardcore-Fans nur noch schärfer und lockte neue an. Nach sieben Jahren der Mercedes-Dominanz herrschte an der Spitze wieder eine ganze Saison lang intensiver Wettbewerb. Red Bull trieb Mercedes 259 Tage vor sich her, und rang den Dominator in der letzten Schlacht schlussendlich nieder. Ferrari ging zu seinen besten Zeiten in der Hybrid-Ära immer vorzeitig die Luft aus.
Die WM-Rivalen gingen Kopf an Kopf ins 22. und letzte Rennen – und das nach 6.103 gefahrenen Rennkilometern. Doch schon vor dem Showdown in Abu Dhabi bewegte sich die Königsklasse an der Grenze zwischen Sport und Show. Sie krönte den Wahnsinn mit einem Finale in der letzten Runde. Erst die 1.297 Runde der Saison sollte den neuen Weltmeister bestimmen. Max Verstappen überholte Lewis Hamilton in Kilometer 6.405 von 6.409. Völlig irre. Und doch reden wir hinterher überwiegend von den Entscheidungen am grünen Tisch, statt von den Weltklasse-Leistungen der beiden Fahrer und der jeweiligen Teams.
Red Bull jubelt, Mercedes schäumt vor Wut: Die Saison ging mit einem großen Knall zu Ende.
Mercedes sieht zwei Foulspiele
Es kam, wie es kommen musste, wenn die Stimmung so aufgeheizt, ja teils sogar vergiftet ist. Der Sieger wurde in der Nachspielzeit bestimmt, weil Mercedes sich verschaukelt fühlte vom Rückzug des Safety Cars für die letzte Runde. Der Seriensieger wäre lieber ins Ziel gecruist. Doch dann hätten bis auf die Hamilton- und Mercedes-Fans wohl alle auf den Tribünen gebuht und zu Hause in ihre Fernseher getreten.
Mercedes sah zwei Foulspiele. Eines von Verstappen und eines von der Rennleitung selbst. Beide Male lehnten die Stewards den Protest ab. Im ersten Fall protestierte Mercedes, weil Verstappen in der vorletzten Runde vor und nach Kurve zwölf die Nase seines Red Bulls für jeweils Millisekunden vor Hamiltons Mercedes hatte. Überholen ist unter Safety Car verboten.
Red Bull argumentierte, dass sein Pilot zu keiner Zeit richtig vorne gewesen sei, und dass es Millionen Präzedenzfälle gäbe, wo unter Safety Car mal ein Auto neben das andere gezogen sei und sich dann wieder zurückfallen ließ. Die Sportkommissare folgten dieser Argumentation. Verstappen sei nur mal kurz vorn gewesen in einer Phase, wo beide beschleunigten und wieder abbremsten. Das kann durchaus passieren. Natürlich wollte der Niederländer so nah wie möglich dran sein, um einen finalen Angriff zu lancieren. Mercedes hatte nach Brasilien an den "Alltagsverstand" appeliert. Den wendeten die Sportkommissare an.
Artikel 48.13 sticht 48.12 aus
Der zweite Fall war kniffliger gelagert. Mercedes zeigte mit dem Finger auf Artikel 48.12 des Sportgesetzes. Dort heißt es etwas unbestimmt, dass Autos, die bereits überrundet sind, sich auf Anweisung unter Safety Car zurückrunden dürfen. Es wurden aber nur fünf Piloten durchgelassen und nicht alle acht. Sobald das letzte überrundete Auto am Führenden vorbei sei, wird das Safety Car am Ende der folgenden Runde die Boxengasse ansteuern, heißt es in dem Artikel weiter. Hieße für Mercedes: Am Ende der 58. Runde – damit hätte Hamilton unter Safety Car das Rennen gewonnen und wäre der neue, alte Weltmeister.
Red Bull hielt dagegen, dass in dem Paragraf nichts von "alle" Autos stehen würde. Sondern nur "any". Das kann man aus dem Englischen mit "jedes", aber eben auch mit "irgendwelche" Autos übersetzen. Sehr schwammig, wie gesagt, aber nicht das Problem von Red Bull. Das Team des neuen Weltmeisters brachte vor, dass die Rennleitung sich eben entschieden habe, in der 57. Runde einen Restart für den letzten Umlauf anzukündigen. So wie es in Absatz 48.13 stehe. Dieser steche Paragraf 48.12 aus. So sah es auch Rennleiter Michael Masi.
In der Urteilsbegründung der Sportkommissare heißt es: "Der Renndirektor erklärte, dass der Zweck von Artikel 48.12 darin bestehe, die überrundeten Autos aus dem Weg zu schaffen, die sich in das Rennen zwischen den Spitzenreitern "einmischen" würden, und dass seiner Ansicht nach Artikel 48.13 in diesem Fall gelte. Er erklärte auch, dass alle Teams sich seit langem darauf geeinigt haben, dass wenn möglich, es sehr wünschenswert wäre, dass das Rennen unter Renntempo und nicht unter Safety Car beendet würde." Der Renndirektor hat das Recht, über das Safety Car zu bestimmen.
Emotionen verständlich
Es ist verständlich, dass Mercedes über den Ausgang sauer ist. Dass Emotionen hochkochen. Dass da auch mal der Gaul mit einem durchgehen kann. Die Formel 1 ist ein Sport. Genau deshalb wollen wir Menschen mit Emotionen sehen. Welche, die Fehler machen, und keine Roboter ohne Gefühle sind. Zumal das Regelwerk hier wirklich nicht konkret ist. Zumal Masi es auch anders hätte auslegen können. Doch wenn Mercedes wirklich geglaubt hat, dass die Sportkommissare ihren eigenen Verband, ihren eigenen Renndirektor abschießen, dann war das etwas naiv gedacht.
Entscheidungen im Sport haben immer Gewinner und Verlierer. Von manchen profitiert man, von anderen nicht. Einer wird sich immer freuen, der andere benachteiligt fühlen. Die Stewards machen auch nur ihren Job. Und zwar gewissenhaft. Dass sie je nach Grand Prix rotieren, ist nichts Falsches. Dann kommt es eben zu Tatsachenentscheidungen. Das ist in anderen Sportarten auch so. Im Fußball, Football, Handball oder Basketball pfeifen auch nicht immer dieselben Schiedsrichter.
In Saudi-Arabien erwischte es Red Bull. In Abu Dhabi Mercedes. Ja, die Rennleitung hat nicht immer eine glückliche Figur dabei gemacht. Doch die Streithähne haben dazu ihren Teil beigetragen, indem sie in jeder möglichen Situation Druck ausgeübt haben. Nach Unfällen. Nach Schiedsrichterentscheidungen. Nach jeder Kontroverse. Mercedes und Red Bull haben sich in dieser Beziehung nichts geschenkt in diesem Jahr.
Ich finde, die Formel 1 hat ein Problem, das sie schnellstens aus der Welt räumen muss. Es braucht neue Benimmregeln. Es kann nicht sein, dass die Rennleitung während eines Grand Prix unter Druck gesetzt wird. Dafür muss ich ausholen, und noch einmal den Verlauf erzählen.
Teamchefs melden sich bei Masi
In Abu Dhabi gab es 53 Runden lang die übliche Prozedur. Lewis Hamilton schien mit einem Raketenstart alle Hoffnungen von Verstappen zu zertrümmern. Die Siegesmaschine wähnte sich bereits mit mehr als einer Hand am achten WM-Titels in Serie. Wie in den Rennen zuvor hatte Mercedes das schnellere Auto über die Distanz. Der siebenmalige Weltmeister fuhr wie eine Maschine: schnell und fehlerlos. Sein Kontrahent brauchte schon die Mithilfe des Teamkollegen, um dem Mercedes überhaupt zwischendrin noch einmal nahe zu kommen.
Sergio Perez behinderte Hamilton über zwei Runden. Der Vorsprung des Mercedes an der Spitze verdampfte von 9,7 auf 1,7 Sekunden. Red Bull spielte mit allen Tricks. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es um alles oder nichts geht. Hamilton sprach am Funk davon, dass der bummelnde Mexikaner da vor ihm gefährlich fahre. Auch das ist verständlich in der Hitze des Gefechts. Mercedes-Teamchef Toto Wolff mischte sich ein, und wiederholte den Vorwurf. Rennleiter Michael Masi ließ ihn an sich abprallen.
Dieser Einwand des Teamchefs von Mercedes war nur ein erster Vorgeschmack. Wolff sollte sich noch drei weitere Mal am Funk in der Rennleitung melden. Zwei Mal davon in der Schlussphase. Jedes Mal mit dem Versuch, die Rennleitung zu beeinflussen. Genauso machte es auch Red Bulls Teamchef Christian Horner. Sein Team hatte bereits in der ersten Runde gegen eine Entscheidung gewettert, dass Hamilton den Spitzenplatz nicht an Verstappen abtreten muss. Die Kommissare haben sich den Fall auf Gesuch von Masi angeschaut, und entschieden. Da gibt es nichts zu widersprechen während des Rennens.
Genau in diesen Momenten driftet die Formel 1 ab. Netflix reibt sich die Hände. Man hat mehr als ausreichend Stoff für die nächste Doku über diese bahnbrechende Saison. Doch aus Sicht des Sports war es zu viel des Guten. Während eines Rennens dürfen Teamchefs keinen Einfluss auf die Regelauslegung nehmen. Nicht am Saisontart, nicht zur Saisonmitte, nicht im Saisonfinale – in keinem Grand Prix.
Michael Masi hat den schwersten Job der Formel 1.
Masi muss besser geschützt werden
Die FIA und die Rechteinhaber müssen in dieser Beziehung einschreiten. Es kann nicht sein, dass die Rennleitung während des Grand Prix überhaupt von den Teamchefs angesprochen wird. Michael Masi und seine Mitstreitet müssen da abgeschirmt werden. Es darf nur einen Mitarbeiter pro Team geben, der Kontakt aufnehmen kann. Der Sportdirektor/Team-Manager am besten, weil der das Regelwerk in und auswendig können sollte.
Wolff schaltete sich beim ersten virtuellen Safety Car zu. Er bat Masi darum, kein Safety Car rauszuschicken. Antonio Giovinazzi war in seinem Alfa Romeo kurz nach Rennhalbzeit mit Hydraulikschaden gestrandet. Das spielte dem Verfolger, in dem Fall Verstappen, die Möglichkeit eines zweiten Reifenwechsels zu. Den Mercedes-Strategen waren die Hände gebunden. Sie konnten die Führungsposition nicht gegen neue Reifen eintauschen. Sonst hätte Red Bull erst gar nicht gestoppt. Ein Safety Car wäre aus Sicht von Mercedes der Killer gewesen.
In der 53. Runde musste Masi dann mit dem echten Safety Car reagieren. Nicholas Latifi hatte seinen Williams in der drittletzten Kurve in die Leitschienen geworfen. Damit die Streckenposten das Auto sicher bergen konnten, musste sich Bernd Mayländer vor das Feld setzen. Wieder konnte Verstappen ohne Risiko stoppen. Diesmal um die Softreifen abzuholen. Wieder waren Hamilton und Mercedes die Hände gebunden. Der Ex-Weltmeister musste auf Teufel komm raus auf abgefahrenen harten Reifen durchhalten.
Wolff: "Das war nicht richtig"
Jetzt begann eine Posse, wie sie diese Formel 1-Saison nicht verdient hat. Zunächst verweigerte Masi, dass sich acht Piloten zurückrunden. Süffisanter Kommentar zwischen Verstappen und seinem Renningenieur: "War ja klar. Das ist keine Überraschung." Unterton: Die FIA agiere in diesem Fall mal wieder pro Mercedes.
Nun schaltete sich Teamchef Horner ein. "Michael, warum schaffen wir die Überrundeten nicht aus dem Weg?" Der Rennleiter brauchte noch etwas Zeit. Für ihn hatte natürlich zunächst die sichere Bergung des Unfallautos höchste Priorität. In solchen Situationen sollte er nicht abgelenkt werden, weil sonst die Streckenposten gefährdet werden könnten. Als Masi dann entschied, dass Norris, Alonso, Ocon, Leclerc und Vettel sich zurückrunden dürfen, Ricciardo, Stroll und Schumacher aber nicht, da war natürlich Mercedes unzufrieden.
Ausgerechnet nur die fünf Autos zwischen Hamilton und Verstappen durften vorbei. Der Rest nicht, weil es sonst zu lange gedauert hätte, und die Saison unter Safety Car zu Ende gegangen wäre. Zum Missfallen der Rechteinhaber und Red Bull, zur Freude von Mercedes. Doch es sollte noch eine letzte Runde geben. Masi stellte erst sicher, dass alles sicher abläuft, und traf dann eine Entscheidung für den Sport. Mercedes-Teamchef Wolff schäumte. "Michael, das ist absolut nicht richtig." Später wiederholte er den Funkspruch, nachdem Verstappen an Hamilton vorbei war. "Michael, das war nicht richtig."
Masi kann kein Whiting sein
Natürlich muss man die Reaktionen der Teamchefs verstehen. Es ging um alles oder nichts, um Sieg oder Niederlage. Da verlässt einen schon mal das Fingerspitzengefühl, und man drückt schnell aufs Knöpfchen, um sich mit der Rennleitung zu verbinden. Auf der anderen Seite aber sollte es diese Leitung überhaupt nicht geben. Masi hat ohnehin genug zu tun. Man stellte sich mal vor, alle zehn Teamchefs würden sich gleichzeitig bei ihm melden.
Generell finde ich: Der Rennleiter braucht zwei starke Personen neben sich, die ihn entlasten. Die ihn unterstützen. Die gewisse Dinge abfedern. Sein Vorgänger, Charlie Whiting, war in diese Aufgabe hineingewachsen. Er wurde mit der Formel 1 gewissermaßen groß, und Schritt für Schritt mit ihr größer. Masi hingegen wurde 2019 mehr oder weniger ins kalte Wasser geworfen.
Whiting war ein Mann, der alles konnte. Der immer cool blieb. Ein wandelndes F1-Lexikon. So einen gibt es aber nur einmal. Das kann man von Masi nicht abverlangen. Ja, der Australier machte in dieser Saison das ein oder andere Mal eine unglückliche Figur. Doch es gibt auch Stimmen im Fahrerlager, die sagen, der 2019 verstorbene Whiting hätte in dieser aufgeheizten Stimmung auch seine liebe Not gehabt. Die FIA muss handeln. Und auch die Teams sollten sich hinterfragen. Michael Masi hat den schwersten Job der Formel 1. Er soll am besten immer sofort entscheiden, und parallel immerzu schlichten. Das kann nicht funktionieren. Das sollten sich alle Parteien mal vor Augen führen.
Er selbst sollte aber auch mal Härte zeigen. Zum Beispiel in Situationen wie in Baku, als nach dem Verstappen-Unfall viele Piloten volle Kanone vorbeifuhren. Nur weil es viele machen, heißt das nicht, dass nicht alle bestraft gehören. Und wenn 19 Piloten unter doppelt-gelb nicht lupfen, müssen eben gegen alle Strafen verhängt werden.
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