Es gibt Rennfahrer, die wurden nie Weltmeister, haben es aber doch zur Legende geschafft. Stirling Moss zum Beispiel, weil er die Weltmeisterschaft vier Mal als Zweiter und drei Mal als Dritter abschloss. Bruce McLaren, weil er einen Rennstall aufbaute, der zu seinen Lebzeiten noch erfolgreich in der Formel 1, der CanAm und in Indianapolis unterwegs war. Ronnie Peterson, weil er mit jedem Auto spektakulär schnell war.
Mythos Gilles Villeneuve
Und Gilles Villeneuve. Der Franco-Kanadier war ein Kämpfer, der Unmögliches möglich machte. Der erst aufgab, wenn sich kein Rad mehr drehte. Der mit unterlegenen Autos gewinnen konnte. Der auch immer wieder in spektakuläre Unfälle verwickelt war. So wie 1977, seinem ersten Jahr in der Formel 1, als er in Fuji am Hinterrad von Ronnie Petersons Tyrrell abhebt und in eine Sperrzone fliegt. Zwei Zuschauer werden dabei getötet.
Oder wie 1978, als er in Long Beach beim Überrunden an Clay Regazzoni Shadow hängenbleibt und eunen möglichen Sieg wegschmeißt. Oder wie 1980 in Imola, als ihm im Linksknick vor der Tosa-Kurve bei 300 km/h der linke Hinterreifen platzt und sein Ferrari an der gleichen Mauer zerschellt, an der 14 Jahre später Roland Ratzenberger stirbt. Da heißt der Linksknick längst Curva Villeneuve.
Drei Rennen haben seinen Mythos begründet. Dijon 1979: Villeneuve kämpft im Ferrari 312T4 in den letzten Runden des Rennens gegen René Arnoux im Renault-Turbo. Es geht um Platz zwei. Die Renault-Rakete schnupft den Ferrari auf der langen Zielgeraden locker auf. Doch Villeneuve kontert im kurvenreichen Teil auf der Rückseite der Strecke. Mal neben der Strecke, mal auf dem Randstein, mal mit Feindberührung, mal ohne, meistens ultraspät auf der Bremse und leicht quer am Kurvenausgang. Der Ferrari-Pilot gewinnt das Duell.
Villeneuve kämpft bis zum Ende
Zandvoort, zwei Monate später. Villeneuve fightet mit Alan Jones um die Führung. In der 51. Runde schickt ihn ein Reifenplatzer links hinten ins Kiesbett der Tarzankurve. Der Kämpfer aus dem kanadischen Bundesstaat Quebec buddelt sich wieder frei. Obwohl der Reifen schon in Fetzen auf der Felge hängt, hetzt Villeneuve im Eiltempo um den Kurs.
Die Driftwinkel in den Rechtskurven sind abenteuerlich. Irgendwann kollabiert die Hinterachse. Der Ferrari zieht das Hinterrad nur noch an einem Querlenker hängend hinter sich her. An den Boxen verlangt der Fahrer einen Reifenwechsel. Chefingenieur Mauro Forghieri macht eine unmissverständliche Handbewegung. Villeneuve stellt missmutig den Motor ab.
Jarama 1981: Jetzt sitzt Villeneuve selbst in einem Turbo-Auto, doch der Ferrari 126C ist ein Biest. Vor allem auf engen Strecken wie Monte Carlo und Jarama. Villeneuve kommt gestärkt von einem Monaco-Sieg nach Spanien. In der 14. Runde spült ihn das Renngeschehen an die Spitze. Der Ferrari-Pilot ist nicht der Schnellste, aber er liegt vorne. Und er kann auf der einzigen Geraden auf 560 PS aus seinem Ferrari V6-Turbo vertrauen.
Hinter Villeneuve bildet sich schnell ein Stau. Jacques Laffite, Carlos Reutemann, John Watson und Elio de Angelis beißen sich an dem Spitzenreiter 50 Runden lang die Zähne aus. Villeneuve macht nicht einen Fehler. Die Meute hinter ihm fährt in den Kurven Kreise um den Ferrari, doch auf der Zielgeraden schaut sie in die Auspuffrohre des roten Autos. Bis zum Ziel. Nach 80 Runden werden die ersten Fünf innerhalb von 1,24 Sekunden abgewinkt.
67 Rennen, sechs Siege
Jarama ist Villeneuves größter Sieg. Nur sechs Grand Prix hat der Kanadier gewonnen. Er wurde nur 32 Jahre alt und hat in sechs Jahren 67 Formel 1-Rennen bestritten. Trotzdem kennt jeder Motorsportfan seinen Namen und nennt ihn im gleichen Atemzug mit den 32 Weltmeistern der GP-Geschichte. Die Startnummer 27 auf dem Ferrari wurde genauso zur Legende wie er selbst.
1982 hätte das Jahr von Gilles Villeneuve werden können. Ferrari hatte mit dem 126 C2 ein Auto gebaut, das Weltmeisterqualitäten hatte. Villeneuves Teamkollege Didier Pironi hat es später bewiesen. Er wäre um ein Haar Weltmeister geworden, obwohl ihn ein schwerer Unfall ab dem GP Deutschland ans Krankenbett fesselte. Pironi war Villeneuves Sargnagel. Eigentlich kamen die beiden Ferrari-Piloten ganz ordentlich miteinander aus. Villeneuve verabscheute Politik. Es gab nie Scherereien mit seinen Teamkollegen.
Doch in Imola 1982 zerbrach die freundschaftliche Geschäftsbeziehung. Es war jener Grand Prix, den die englischen Teams wegen eines Streits mit der FIA um das Reglement boykottierten. Nur 14 Autos standen am Start. Die beiden Ferrari dominierten das Geschehen. Ab einem bestimmten Punkt im Rennen gab es einen Nichtangriffspakt. In diesem Moment führte Villeneuve. Trotzdem ging Pironi an seinem Stallrivalen vorbei.
Duell mit Ferrari-Teamkollege Pironi
Villeneuve dachte zunächst, das Geplänkel an der Spitze diene der Unterhaltung des Publikums. Viel zu spät merkte er, dass es der Franzose ernst meinte. Auf dem Siegerpodest konnte man die Spannung mit den Händen greifen. Villeneuve würdigte Pironi keines Blickes und sprach hinterher von einem gebrochenen Versprechen. Pironi zuckte mit den Schultern. Er sei Rennfahrer und habe nichts zu verschenken. Sein Gegner schwor: "Mit dem rede ich kein Wort mehr."
14 Tage später trafen sich die beiden in Zolder. Tatsächlich war das Ferrari-Team in zwei Lager zerfallen. Villeneuve hielt in der Boxengarage maximalen Abstand zu seinem neuen Todfeind. Kurz vor Ende des Abschlusstrainings lag Pironi auf Platz drei. Vor Villeneuve. Für den Lenkradakrobaten aus Kanada ein unerträglicher Zustand. Er rückte noch einmal aus, auf bereits angefahrenen Qualifikationsreifen. Zu damaligen Zeit hatte man nur zwei Schüsse mit frischen Reifen. Villeneuve glaubte, er hätte noch eine dritte Patrone im Magazin.
Tödliches Missverständnis
Als er nach der Schikane über die Kuppe Richtung Terlamenbocht schießt, sieht er den langsam dahinrollenden Jochen Mass. Dann passiert das klassische Missverständnis. Der Vordermann will Platz machen und sucht sich genau die Stelle aus, für die sich der andere längst entschieden hat. Villeneuve will außen vorbei. Mass macht die Innenspur frei, zieht ebenfalls nach rechts.
Der Ferrari trifft das linke Hinterrad des March, steigt wie ein Drachen auf, schlägt mit unglaublicher Gewalt in die Böschung rechts neben der Strecke ein und beginnt sich dann vorwärts überschlagend in seine Einzelteile zu zerlegen. Nach dem ersten Salto fliegt der Pilot in hohem Bogen durch die Luft und trifft im gegenüberliegenden Kiesbett mit dem Kopf auf einen Fangzaunpfosten. Den Helm und die Schuhe hat ihm die Fliehkraft vom Körper gezogen. Villeneuve bricht sich das Genick. Sieben Stunden später gibt seine Frau Joann das Einverständnis, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten.
An den Boxen ist man auf den Streckensprecher angewiesen. Live-Berichterstattung vom Training gab es seinerzeit nicht. Anthony Marsh erzählt von einem monumentalen Unfall und davon, dass der Pilot aus dem Auto geschleudert wurde. Die Zuhörer an den Boxen können es nicht glauben. Wie soll das gehen? Formel 1-Fahrer sind in ihren Autos festbetoniert. Deshalb die leise Hoffnung, der Streckensprecher möge sich geirrt haben.
Tatsächlich war die Wucht des ersten Einschlags in die Böschung so groß, dass die Befestigungen von Sitz und Schultergurt gerissen sind. Außerdem sickerte später die Geschichte durch, dass Villeneuve ähnlich wie Jochen Rindt 1970 in Monza die Oberschenkelgurte seines Sechspunktgurtes nicht angelegt hatte.
Eine Woche später wurde Kanadas berühmtester Rennfahrer in seiner Heimatstadt Berthierville beerdigt. Es war wie bei Ayrton Senna ein Staatsbegräbnis. Was Gilles nicht schaffte, erledigte sein Sohn Jacques 15 Jahre später mit dem WM-Titel. Auch er war ein wilder Hund. Doch an den Mythos des Vaters konnte Jacques Villeneuve nie heranreichen.