Es war ein Grand Prix, den man gewinnen konnte. Oder musste. Wann ist Red Bull schon mal chancenlos? George Russell hatte die Chance. Zwei Drittel des Rennens fand der Zweite der Startaufstellung keinen Weg an dem führenden Ferrari von Carlos Sainz vorbei. Dann versuchte es Mercedes mit einer Risiko-Taktik. Der zweite Boxenstopp für frische Medium-Reifen hätte zur Trumpfkarte werden können, hätte Russell den McLaren von Lando Norris im ersten Anlauf überholt.
Genau da nahm das Schicksal seinen Lauf, das in der letzten Runde mit dem unglücklichen Mauerkuss in Kurve 10 endete. Wäre Russell am McLaren vorbeigekommen, hätte er dank seines Reifenvorteils wahrscheinlich auch Carlos Sainz geknackt. "Der Angriff war gut vorbereitet, aber nicht gut genug. Wenn du in Bruchteilen einer Sekunde entscheiden musst, was der beste Weg ist, kannst du auch mal daneben liegen."
Könnte er das Rennen noch einmal fahren, hätte er sich bei der Aufholjagd etwas gezügelt. "Dann wäre in meinen Reifen auch noch etwas mehr Leben gewesen, was mir einen noch größeren Vorteil verschafft hätte."
In der letzten Runde hatte sich Russell fast schon mit dem dritten Platz abgefunden, als er in Kurve 10 die Mauer streifte. "Du schaust im Auto nur nach vorne. Wie viel Platz zur Seite noch ist, hast du im Gefühl und im Augenwinkel. Ich habe gesehen, wie Lando vor mir die Mauer berührt hat. Das hat mich kurz abgelenkt. Anders ist der Fehler nicht zu erklären. Ich hatte das ganze Wochenende kein Problem mit dieser Stelle."

Mercedes erwartet in Suzuka Red Bull wie üblich stark und McLaren sehr gut aufgestellt.
60 Punkte verloren
Zunächst war Russell untröstlich. Schon wieder weggeworfene Punkte. "Ich habe in dieser Saison schon mindestens 60 Zähler liegengelassen. Melbourne, Zandvoort, Montreal, Singapur: Mal war die Technik schuld, mal ich selbst." Das liegt auch daran, dass dieser Mercedes fast noch mehr eine Wundertüte ist als sein Vorgänger 2022. Lewis Hamilton hatte schon in Singapur zugegeben, dass er in diesem Jahr größere Risiken eingehen muss, "um das Auto dort hin zu zwingen, wo ich es hin haben will."
Deshalb tut Russell die weggeworfene Siegchance so weh. "Es war mein bestes Wochenende in diesem Jahr. Wir waren schnell und haben bis auf diese letzte Runde nicht einen Fehler gemacht." Der 25-jährige Engländer verglich das Missgeschick mit seinem Unfall 2020 in Imola, als er im Williams seine ersten WM-Punkte in der Leitplanke versenkte.
Nach 36 Stunden Hadern schloss er mit dem Crash ab. "Am Ende musst du versuchen, das Positive zu sehen. Es gab einen Grund, warum wir wieder einmal in der Lage waren, um den Sieg zu kämpfen. Ich lasse mir eine gute Leistung nicht kaputtmachen, nur weil ich mich ein Mal um zwei Zentimeter verschätzt habe."
In Suzuka erwartet Russell wieder ein enges Rennen mit den üblichen Verdächtigen um den besten Platz hinter den Red Bull. McLaren schätzt er dabei höher ein als Ferrari. "Die haben ein unglaublich gutes Auto in schnellen Kurven. In Silverstone haben sie uns in jeder dieser Kurven zwei bis zweieinhalb Zehntel abgenommen. Selbst Red Bull hat da ein Zehntel auf die McLaren verloren." Red Bull erwartet der Mercedes-Pilot wieder in der alten Form. "Wenn es doch kein einmaliger Ausrutscher gewesen sein sollte, müssen wir uns alle ein paar Fragen stellen."