Eigentlich ist die Formel-1-Saison 2021 seit neun Monaten vorbei. Es war eine der turbulentesten überhaupt mit einem Finale in Abu Dhabi, das Max Verstappen zum Weltmeister machte und Mercedes vor Wut schäumen ließ. Der Konstrukteurs-Weltmeister fühlte sich von den späten Entscheidungen der Rennleitung bezüglich des Einsatzes des Safety Cars verschaukelt. Die Nachwehen waren über die gesamte Winterpause zu spüren und kosteten Rennleiter Michael Masi den Job.
Da dachte man, es sei ein Schlussstrich gezogen. Doch die vergangene Saison lässt die Formel 1 einfach nicht los. Die neueste Wendung könnte für ein Erdbeben sorgen. Offenbar haben zwei Teams den Budgetdeckel überzogen. Maximal durften die Teams 2021 einen Betrag von 148,6 Millionen US-Dollar ausgeben. Red Bull und Aston Martin sollen darüber gewesen sein. Der eine deutlich drüber, der andere nicht ganz so sehr.

Binotto und Wolff sprechen
Red Bull wundert sich, wie die Geschichte überhaupt an die Öffentlichkeit kommen konnte. Man befände sich schließlich im Austausch mit der FIA. In einem laufenden Prozess der Prüfung. Die FIA wiederum hält sich bedeckt. Am Freitag (30.9.2022) verschickte der Weltverband zwei Statements. In letzterem hieß es, dass die FIA "unbegründete Spekulationen und Vermutungen" bemerkt habe. Und man noch einmal deutlich machen wolle, dass die Bewertung laufe, man sich an den Prozess halte und sich nicht von Diskussionen außen beeinflussen lasse.
Bei einer Geschichte solchen Ausmaßes wird natürlich viel gesprochen im Fahrerlager. Red Bulls Konkurrenz fühlt sich veräppelt, sollte das Team von Weltmeister Max Verstappen tatsächlich mehr ausgegeben haben, als man es durfte. Ferrari-Teamchef Mattia Binotto und Mercedes-Rennleiter Toto Wolff steckten am Freitag vor dem ersten Training in Singapur eine Stunde lang die Köpfe zusammen.
Im Fahrerlager kursieren Zahlen, dass Red Bull bis zu zehn Millionen Dollar überzogen haben könnte. Das wäre ein kapitaler Verstoß. Sofort werden Rechnungen aufgemacht. Für diesen Betrag könnte man 100 Ingenieure zu einem Gehalt von 100.000 Dollar beschäftigen. Das würde zwangsläufig den Output der Entwicklungsabteilung erhöhen. Zehn Millionen: So viel Budget haben viele Teams nicht mal für Upgrades unter der Saison. Alfa-Sauber-Teamchef Frederic Vasseur gibt Auskunft: "Wir haben nur 2,4 Millionen, um unser Auto unter dem Jahr zu entwickeln."

Red Bull wehrt sich
Red Bulls Teamchef Christian Horner entgegnete den Vorwürfen, dass man Unterlagen eingereicht habe, die offenlegen, dass man innerhalb der Maximalgrenze liege. Sportchef Helmut Marko sprach in die TV-Mikrofone, dass sich Red Bull keine großen Sorgen mache. "Wir haben die Dokumente im März eingereicht, wie es die FIA verlangt. Bei diesen komplizierten Regeln ist klar, dass die Prüfung dauert. Die FIA und die Teams durchlaufen diesen Prozess zum ersten Mal. Wir erwarten den Ausgang mit Spannung. Wir sind absolut sicher, dass wir uns innerhalb der Limits bewegen" erklärte Horner. Der Teamchef giftet: "Wie können sich unsere Gegner öffentliche Kommentare erlauben? Nur die FIA und wir kennen die Unterlagen. Da werden Sachen geäußert, die rufschädigend sind." Red Bull überlegt, rechtliche Schritte einzuleiten.
Bei den Teams geht die Sorge um, dass die Beträge schöngerechnet werden, damit die FIA keine Strafe aussprechen muss, die den Ausgang der Weltmeisterschaft 2021 beeinflusst. Der Gegner aus dem letzten Jahr, Mercedes, und der diesjährige Konkurrent, Ferrari, verlangen Härte. Weil Red Bull nicht nur 2021, sondern auch in dieser Saison profitieren soll und es auch in der nächsten tun werde. Weil man in der letzten Saison parallel entwickeln konnte – am alten und am neuen Auto.
Deshalb, so der Vorwurf der Konkurrenz, kam Red Bull mit dem 2022er Auto auch so gut aus den Startlöchern. Die Gegner wollen errechnet haben, dass Red Bull auch im zweiten Jahr der Budgetdeckelung über dem Limit liegt. Damit würde man sich auch einen unlauteren Vorteil für die kommende Saison erarbeiten. Zum Beispiel mit einem Leichtgewichtschassis, das Red Bull 2022 zwar nicht mehr einsetzen will, das aber bereits einen Crashtest absolviert haben soll. Man könnte es 2023 verwenden – und erst dann die Kosten für die Produktion verrechnen. Mercedes wirft ein, dass man nicht das Geld gehabt habe, sein Auto in diesem Jahr abzuspecken, wie man es wollte.
FIA-Ergebnis vor GP Japan
Noch ein Einwurf der Konkurrenz: 2021 sparte man sich durch die Übernahme von rund 70 Prozent des 2020er Autos Entwicklungskosten in Höhe von 25 bis 30 Millionen. In diesem Fall geht es aber nicht nur ums Sportliche, sondern auch um Menschen. Mercedes rechnet vor, dass man das Rennteam habe abmagern müssen, um innerhalb der Finanzregeln zu spielen. Dass man über 40 Leute habe auf die Straße setzen müssen. Auch Ferrari und Teams wie McLaren mussten Personal abbauen, um den Budget-Cap nicht zu sprengen. Das waren schmerzvolle Klimmzüge. Umso erboster ist man, sollten sich andere nicht an die Regeln gehalten haben.
Horner beteuert: "Bei uns wurden 90 Leute arbeitslos, weil wir stark restrukturieren mussten." McLaren-Teamchef Andreas Seidl äußert Bedenken: "Wir mussten Entlassungen vornehmen und auch an die Gehälter ran. Es gibt andere Teams, die keine Kürzungen vornehmen. Wir fragen uns, wie sie solche Gehälter bezahlen können."
Im Fall von Red Bull sind sich das Team und die drei FIA-Prüfer offenbar uneins, ob und wie gewisses Personal angerechnet wird. Red Bull behauptet, es werden Ingenieure mit in den Budget Cap genommen, die doch eigentlich nichts mit dem Rennteam zu tun haben. Sie sollen stattdessen in der Motorensparte (Red Bull Powertrains) angestellt sein, die nicht zum Budget Cap zählt, oder bei Red Bull Advanced Technologies, dem Technologie-Arm, der sich um High-Performance-Produkte wie beispielweise Hypercars kümmert.
Die FIA will die Ergebnisse der Buchprüfungen zwischen dem GP Singapur und GP Japan veröffentlichen. Am Dienstag oder am Mittwoch vor dem Rennen in Suzuka. Und mögliche Strafen gleich mit kommunizieren, sofern die betroffenen Teams ihr Einverständnis dazu geben. Das geht natürlich nur, wenn sie die ausgesprochene Strafe akzeptieren und nicht vor Gericht ziehen. Bis die FIA aus der Deckung kommt – und das ist wichtig – muss für Red Bull und Aston Martin die Unschuldsvermutung gelten.

Strafe offen
Das Regelwerk zu den Finanzen unterteilt Verstöße in drei Kategorien. 1) Verfahrensfehler. Zum Beispiel, wenn Dokumente zu spät eingereicht werden. Das war Williams passiert. Die FIA sprach eine Strafe von 25.000 US-Dollar aus. Williams musste zudem die Verfahrenskosten tragen. 2) Eine leichte Überschreitung des Budgetdeckels. Darunter versteht die FIA einen Überzug von bis zu fünf Prozent. Das wäre 2021 ein Betrag von 7,4 Millionen Dollar gewesen. 3) Eine Überschreitung von über fünf Prozent.
Das Regelwerk lässt offen, wie genau eine Strafe ausfallen könnte. Bewusst, damit Sünder nicht mit Absicht überziehen, weil sie mit der dann ausgesprochenen Strafe leben können. Andererseits werden durch die vagen Formulierungen Türen geöffnet für Hinterzimmer-Deals. Klar ist: Mercedes und Ferrari fordern wie andere Teams auch eine Bestrafung, die wehtut und abschreckt. Weil man bereits mit einer Million mehr viel anstellen kann.
Für kleinere und größere Verstöße kann die FIA beispielsweise Punkte in der Team- sowie Fahrer-WM abziehen. Im Fall der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft würde es Red Bull nicht schmerzen. Es sei denn, die FIA reagiert mit einer drakonischen Strafe. Red Bull wurde 2021 Zweiter mit 585,5 Punkten. Der Puffer zu Ferrari (323,5 Punkte) war groß.
Gefährlicher Präzedenzfall
In der Fahrer-Weltmeisterschaft liegt der Sachverhalt anders. Da setzte sich Verstappen mit 395,5 zu 387,5 Punkten gegen Hamilton durch. Hier stünde bei einem Abzug der Titel auf dem Spiel. Die Finanzregeln erlauben der FIA auch, einem Team Zeit im Windkanal abzuziehen oder den Budget Cap für eine andere Saison zu verringern. Man behält sich außerdem vor, ein Team von Rennen auszuschließen. Selbst ein Rauswurf aus der Weltmeisterschaft ist möglich.
Die FIA muss sich die Frage stellen: Ist für sie schon ein kleiner Verstoß Doping oder nicht? Lässt sie zu sehr milde walten, schafft sie einen gefährlichen Präzedenzfall. Dann würde jedes Team, das zusätzliche Millionen ausgegeben kann, bewusst den Budgetdeckel überziehen. Dann könnte die FIA ihr Regelwerk gleich in die Tonne treten. Und die Formel 1 die Idee der Chancengleichheit vergessen. Denn darum geht es. Der Budget Cap soll das Feld über Jahre zusammenführen und alle Teams auf gesunden Beinen stehen lassen. "Wir fordern eine klare und transparente Aufklärung des Falls", sagt Ferrari-Sportchef Laurent Mekies. "Bei den Zahlen, die im Umlauf sind, kann man sich ausrechnen, wie viel Rundenzeit die Mehrausgaben bringen."
Der Aufschrei wegen Red Bull ist groß. Doch auch der Fall Aston Martin ist interessant, sollte das Team die Regeln gebrochen haben. Hier soll der Budgetdeckel durch Ablösesummen für abgeworbene Ingenieure überschritten worden sein. Neues Personal mag zwar kurzfristig keinen Vorteil bringen, dafür mittel- und langfristig. Und es schwächt die Konkurrenz.