Das Kräfteverhältnis in der Qualifikation ist abgesteckt. Charles Leclerc eroberte zum sechsten Mal in dieser Saison die Pole Position. Bislang hat der WM-Zweite allerdings nur zwei eigens gemachte Vorlagen in einen Treffer verwertet. Ferrari muss an der Chancenverwertung arbeiten, und damit in Baku anfangen. Bei Red Bull liegt der Fall nach der nächsten Quali-Niederlage anders. Das Team aus Milton Keynes eroberte zwar erst zweimal den besten Startplatz, hat dafür aber fünf Siege auf dem Konto. Das nennt man zielsicher.
So traf man bei Red Bull nach den Plätzen zwei und drei am Samstagabend in Baku auch nicht auf versteinerte Gesichter und hängende Köpfe. Sergio Perez und Max Verstappen wollen die Rangfolge über die 51 Rennrunden am Sonntag umdrehen. "Ich bin im letzten Jahr auch vom dritten Platz gestartet, und habe das Rennen lange angeführt. Hier in Baku kann alles passieren", erinnert sich Verstappen. Damals kostete ihn ein später Reifenschaden den Sieg.
Leclerc zufrieden mit Longruns
Damals hatte Red Bull über die Distanz das beste Auto, weil man am pfleglichsten mit den Reifen umging. So will der Konstrukteurs-Führende auch diesmal zuschlagen. Leclerc hält dagegen. "Meine Longruns im zweiten Training sahen gut aus. Ob es gegen die Red Bull reicht, werden wir sehen." Ferrari fühlt sich generell besser aufgestellt als in den ersten Rennen. Seit Barcelona meldet Maranello Fortschritte mit dem Reifenmanagement. Ein Upgrade half. "Ich bin deshalb optimistisch", meint der Pole-Setter.
Nach den ersten zwei Durchgängen der Qualifikation hatte sich der 24-Jährige gedanklich schon auf eine Niederlage eingestellt. Red Bull hatte in Q1 mit Verstappen das Feld angeführt, und in Q2 mit Perez. Dann drehte Ferrari auf. Im ersten Schuss von Q3 setzte sich Carlos Sainz an die Spitze, dem im entscheidenden Moment jedoch ein Fehler unterlief. Leclerc schlug nervenstark zu. Wie so oft.
Der Monegasse enteilte seinen Verfolgern dank starkem ersten und zweiten Sektor um drei Zehntelsekunden. "Ich glaube, ich habe in dieser Runde nicht viel liegengelassen. Die zweite Kurve hat mir das ganze Wochenende Probleme bereitet. Da habe ich einfach die Bremse gelöst, und gebetet. Zum Glück hat es hingehauen. Die letzte Kurve auf die Gerade war auch schwer. Das lag aber glaube ich am Wind", berichtete Leclerc.

Windschatten-Spender Perez fehlt
Keiner der Fahrer aus den Top 3 schaffte es, alle Sektoren zu einer perfeten Runde kombinieren. Leclerc wäre in seiner Idealzeit auf 1:41.220 Minuten gekommen – also theoretisch um 0,139 Sekunden schneller gewesen. Perez wäre bei 1:41.578 Minuten gelandet, Verstappen bei einer Rundenzeit von 1:41.667 Minuten. Was zeigt, dass Ferrari auf eine Runde die Oberhand hatte.
Red Bull haderte dennoch mit den Schlussminuten. Es dauerte zu lang, bis Perez die Box am Ende von Q3 verließ. Ein Problem verhinderte es. So konnte der Mexikaner seinem Teamkollegen auch keinen Windschatten spenden, und bekam selbst keinen, weil der Anschluss ans Feld abriss. Mit Zugpferd vor sich hätte Verstappen laut Red-Bull-Rechnung zwei bis drei Zehntel schneller fahren können. Für die Bestzeit hätte es auch dann nicht gereicht.
Wer da herauslesen möchte, dass Perez trotz seiner starken Form und dem geringen Rückstand in der WM von 15 Punkten trotzdem weiterhin die Nummer 2 im Team ist, dem nahm Verstappen den Wind aus den Segeln. "Wir wechseln ab. Diesmal war Sergio an der Reihe, vor mir zu fahren." Perez bedauerte: "Ich habe in meiner letzten Runde auf dem Display mitverfolgen können, wie ich ohne Windschatten auf jeder Gerade verliere. Ich muss aber ehrlich sein. Die Pole Position war für uns außer Reichweite."
Ferrari stark durch Altstadt
Was war das Problem gewesen? Es passte der Ablauf in der Garage nicht. Der Ingenieur, der für das Benzin am Auto mit der Startnummer 11 zuständig ist, war nicht rechtzeitig dienstbereit, weshalb der Motor erst mit Verspätung angeworfen werden konnte. Klingt nach einem Kommunikatiosproblem. Ferrari kam dagegen reibungslos durch das Programm. Alle Fahrer in den Topautos hatten robustes Material. Alle kamen sie mit Mauerkontakt davon. "Ich habe sie ein paar Mal ziemlich hart getroffen", äußerte sich Perez.
Den entscheidenden Vorteil erarbeitete sich Ferrari im zweiten Abschnitt durch die Altstadt. Im verwinkelten Teil mit zwei schnellen Bergab-Kurven inklusive hängte Leclerc seine Verfolger um drei Zehntelsekunden ab. Es war der Beweis dafür, dass Ferrari mit dem Heckflügel für mittleren Abtrieb ins Schwarze getroffen hat. Das rote Auto legte um mehrere Stundenkilometer auf den Geraden zu, und büßte in den Kurven dennoch nicht überproportional ein. "Es war das erste Mal, dass wir dieses Paket gefahren sind. Wir sind damit wettbewerbsfähig. Es funktioniert, wie wir es uns vorgestellt haben", sagte ein erfreuter Leclerc.
Beim Topspeed auf der Zielgerade hatte Red Bull dennoch einen Vorteil. Davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Die Speeds werden vom Windschatten bestimmt. Jedenfalls scheint Ferrari dieses Mal im Gegensatz zu den Highspeed-Strecken von Jeddah und Miami nicht auf den Geraden verwundbar zu sein. Aus den Fängen der Red Bull sollte sich Leclerc dennoch befreien. Sonst könnten sie mit DRS und Windschatten zuschlagen.

Die Stärke des Ferrari F1-75
Der Vorteil des roten Autos liegt darin, dass man besser in die langsamen Kurven kommt. Kein Rennwagen hat an der Vorderachse so viel Biss wie der Ferrari F1-75. Es ist der Bereich, mit dem Verstappen an seinem Red Bull speziell hadert. Was vermutlich an den Vorderreifen liegt, die Red Bull nicht so im Griff hat wie der Hauptrivale. Da helfen Ferraris Verständnis die unzähligen Reifentests mit Pirelli im Vorjahr. Weltmeister Verstappen wünscht sich eine starke Front, weil er mit einem losen Heck gut umgehen kann. Perez kommt der tendenziell untersteuernde Red Bull mehr entgegen als das Vorjahresmodell. Deshalb auch der geschrumpfte Abstand.
Vielleicht spielen bei Red Bull im Vergleich auch die acht Kilogramm Übergewicht eine Rolle, die das Auto immer noch mit sich herumschleppt. Verstappen findet in Baku jedenfalls nicht den Flow. "Das Auto ist für meinen Geschmack konstant ein bisschen außerhalb des Wohlfühlbereichs. Ich kriege nicht die Balance zwischen Vorder- und Hinterachse hin." Im Renntrimm, so lehrt der bisherige Saisonverlauf, hilft Red Bull diese Fahrzeugbalance. Das Heck klebt im Verhältnis mehr auf der Straße, was den Reifenabbau reduziert.
Am Ferrari war es so, dass das etwas mehr bewegende Heck zu einer Mehrbelastung für die Reifen führte. Was Leclerc durch das Barcelona-Upgrade aber wie erwähnt behoben hofft. Ferraris Zukunftsmann kann mit einem losen Heck ohnehin besser leben als Teamkollege Sainz. Der Spanier würde sich wie Perez lieber Untersteuern wünschen. Die Reifenfrage, wer wie gut mit den Pirellis haushält, wird erst morgen geklärt. Red Bull hat sich für den Grand Prix zwei frische harte Sätze und einen Medium reserviert. Bei Ferrari ist es umgekehrt.