Für Ferrari begann die letzte Saison verheißungsvoll. Doch für den ganz großen Wurf reichte es wieder nicht. Die Scuderia wurde jeweils abgeschlagen zweimal Zweiter – in der Fahrer-WM mit Charles Leclerc und bei den Konstrukteuren. Red Bull überflügelte den erfolgreichsten Rennstall der Formel-1-Geschichte, der weder bei der Entwicklung noch bei der Zuverlässigkeit mithalten konnte. Und da sind wir bereits bei den wunden Punkten angekommen, die der neue SF-23 für die Formel-1-Saison besser können muss.
Die neue Rote Göttin braucht ein größeres Arbeitsfenster, in dem die Aerodynamik funktioniert. Das gibt den Fahrern das notwendige Vertrauen in ihr Arbeitsgerät, und hilft dazu beim Reifenmanagement über die Distanz. Der SF-23 muss windschnittiger sein als der Vorgänger. Der zu hohe Luftwiderstand zwang Ferrari 2022 wiederholt in Kompromisse, die gegen Red Bull zur Niederlage führten. Es fehlten teilweise 10 km/h oder mehr auf den Geraden.
Ein ganz wichtiger Punkt im Lastenheft der Ingenieure ist die Standfestigkeit. Dreimal ging der V6-Turbomotor in der vergangenen Saison hoch und kostete Charles Leclerc und Carlos Sainz wichtige WM-Punkte. Nach der Misere mit den Ventilen regelte Ferrari die Leistung runter. Wie man hört, ziemlich stark.
Die Aufgabe der Ingenieure war es über den Winter, die Zuverlässigkeit des Antriebs zu verbessern, um wieder die volle Leistung aus dem Paket herauszuholen. Wenn das gelingt, macht Ferrari automatisch einen ordentlichen Sprung. Der neue Teamchef Frederic Vasseur ist überzeugt: "Wir haben über den Winter gut gearbeitet. Ich bin zuversichtlich, dass wir in Sachen Leistung bei der Musik sein werden."

SF-23 mit gekürzter Nase
Mit dem SF-23 will Ferrari endlich wieder den WM-Titel nach Maranello holen. Zuletzt gelang das 2007 bei den Fahrern (mit Kimi Räikkönen) und 2008 in der Team-WM. Für das Unternehmen hatte Ferrari früh in der alten Saison alle Ressourcen auf das neue Auto verlagert, nachdem im Sommer klar wurde, dass Red Bull zur Weltmeisterschaft stürmt. Und das ist das Ergebnis: der neue SF-23. Der Name steht für "Scuderia Ferrari" und das entsprechende Jahr.
Ferrari bleibt seinem Konzept mit den ausgebuchteten Seitenkästen treu, und verfeinert es im Detail. Es gab auch keinen Grund, die Aerodynamik-Philosophie zu ändern. Zwölf Pole Positions zeugten davon, dass der Speed stimmte. Besonders auffällig an der neuen Roten Göttin sind die Nase und der Frontflügel. Die Ferrari-Ingenieure kürzten die Nasenspitze. Das hat zur Folge, dass das unterste Element des Frontflügels nun frei in der Luft liegt. Beim Vorgänger war die Nase noch "eingebacken".
Für Aufsehen sorgen die fünf kleinen Verbindungsstege zwischen dem dritten und vierten Flap des Frontflügels. Ferrari hat die Stabilisatoren wie kleine Winglets geformt, die sich zur Seite drehen. Vielleicht erinnern Sie sich an das Vorjahr. Mercedes war beim GP Mexiko mit einer ähnlichen Lösung aufgekreuzt. Die FIA-Techniker schritten ein. Offenbar gibt es in diesem Bereich aber doch Schlupflöcher, beziehungsweise wurde Artikel 3.9.8 im Technik-Reglement für die neue Saison überarbeitet. Klar ist: Ferrari will hier die Luft gezielt nach außen lenken.

Ferrari geht eigenen Weg
An der Vorderachse aktivieren Pushrods (Druckstreben) die Feder-Dämpfer-Elemente. Im Heck sind es Pullrods (Zugstreben). Der Seitenkasten zwischen den Rädern baut wie beim F1-75 breit und lang, ist aber etwas anders unterschnitten. Der Einlass in den Seitenkasten gleicht weiter einem nach hinten gezogenen Briefkastenschlitz. Ferrari hat die Öffnung leicht anders moduliert. Die "Badewanne" lässt auch der neue SF-23 im Seitenkasten ein. Jedoch ist der Übergang in die Motorhaube ein anderer.
Es lohnt sich der Blick in die Mulde. Ferrari hat im vorderen Bereich mehrere Lamellen eingelassen. Hier wird ein Teil der Luft aus dem Seitenkasten nach oben abgeführt. Dann entsteht eine kleine Lücke bis zu den nächsten Öffnungen. Am Übergang in die Motorabdeckung befinden sich sieben weitere Kühlschlitze. Neben dem Cockpit öffnet sich ein vertikaler Schlitz.
Ferrari geht seinen eigenen Weg weiter, und verzichtet darauf, die Motorhaube im mittleren Bereich voluminös auszubuchten. Der SF-23 wirkt in diesem Bereich sehr kompakt gebaut. Oder mit anderen Worten: sehr windschnittig. Die Antriebsbausteine, Kühler und Steuergeräte sind tief verbaut im Auto. Das senkt den Schwerpunkt.
Ferrari-Chassis-Chef Enrico Cardile fasst zusammen: "Die auffälligsten Änderungen finden sich im Bereich der Vorderradaufhängung, wo wir auf eine niedrige Spurstange umgestiegen sind. Der Frontflügel ist ebenso anders wie die Konstruktion der Nase, während die Karosserie eine extremere Version von dem ist, was wir letzte Saison gesehen haben."

SF-23 fährt in Fiorano
Das Reglement gestattet Ferrari, den Windkanal im Vergleich zu Red Bull mehr auszulasten. In Zahlen: Ferrari hat 240 Runs zur Verfügung, Red Bull nur 202. Auch bei der Computer-gesteuerten Entwicklung hat Ferrari per Regelwerk mehr Kapazitäten. Diesen Umstand wollen die Ingenieure in Rot zu ihrem Vorteil ausnutzen.
Es darf davon ausgegangen werden, dass Ferrari viel Arbeit in den Bau des Unterbodens gesteckt hat. Was von außen zu sehen ist, ist ein großes, abgestuftes Leitblech an der äußersten Kante. Besonders wichtig ist die Form unter dem Auto. Der Abtrieb, der hier gewonnen wird, ist besonders effizient. Er geht nicht zulasten des Luftwiderstands.
Allerdings lauern Gefahren. Wer zu viel will, den könnte Bouncing bestrafen. Das Auto saugt sich dann bei hohen Geschwindigkeiten unkontrolliert an und ab. Es beginnt zu hoppeln. Ferrari erlebte nach einem Umbau 2022 in Frankreich einen weiteren unangenehmen Nebeneffekt. Durch einen neuen Unterboden schrumpfte das Wohlfühlfenster des F1-75. Der Reifenverschleiß stieg. Das darf nicht wieder passieren.
Die Airbox am SF-23 ist wieder dreieckig. Zwei Hörner biegen sich rechts und links nach oben. Sie kanalisieren die Luft. Das kennen wir bereits vom Vorgänger. Der Halo trägt einen Aufsatz. Hinten am Cockpitrand wachsen dem SF-23 seitlich filigrane Winglets. Der höhere Anteil an Sichtcarbon (Nase, Seitenkasten, Kamm der Motorabdeckung) lässt darauf schließen, dass die Ingenieure Gewicht sparen mussten.
Der 2022er Ferrari lag zwei bis vier Kilogramm über dem Mindestgewicht. Die erste Ausfahrt absolvierte der neue Ferrari-Rennwagen direkt nach der Enthüllung auf der Hausstrecke in Fiorano. Charles Leclerc gewann das Recht auf die Jungfernfahrt per Münzwurf.