Ferrari brauchte einen Doppelsieg. Die Teamleitung hatte ihn eingefordert. Bei dem Rückstand auf Red Bull muss man in großen statt in kleinen Schritten aufholen. Doch statt den Abstand zu verkürzen, wurde er größer. Charles Leclerc kann nicht mehr aus eigener Kraft Weltmeister werden. Selbst wenn er immer gewinnt und neun Mal die schnellste Runde fährt, reichen Max Verstappen genauso viele zweite Plätze. Bei 80 Punkten Vorsprung kann er getrost 72 Zähler herschenken.
Ferrari muss sich in der Konstrukteurswertung mehr nach hinten als noch vorne orientieren. Mercedes hat sich bereits auf 30 Punkte herangerobbt. Red Bull ist nur noch mit dem Fernglas zu sehen und kann von 97 Zählern Vorsprung zehren. Da braucht Ferrari viele Doppelsiege, um das Blatt noch zu wenden.

Vom Favoriten zum Verlierer
Auf dem Papier ging Ferrari als klarer Favorit in den letzten Grand Prix vor der Sommerpause. Auf einer Strecke mit 14 Kurven und einer Gerade musste das Auto mit dem meisten Abtrieb überlegen sein. Das Freitagstraining bestätigte die Prognosen. Ferrari schien unschlagbar, egal auf welchem Reifen. Auf eine Runde und im Dauerlauf.
Doch die Ferrari-Techniker haben aus den beiden Trainingssitzungen am Freitag die falschen Schlüsse gezogen. Trotz schweißtreibenden 33 Grad und 50 Grad auf dem Asphalt war der harte Reifen für alle im Feld zu hart. Die Autos rutschten mangels Grip nur herum. Das führte schnell zur Überhitzung der Lauffläche. Schon nach dem ersten Trainingstag sagten die meisten Teams, dass sie am Sonntag die Finger von Pirellis härtester Mischung lassen würden. Außer denen, die partout ein Einstopp-Rennen fahren wollten.
Der Temperatursturz am Samstag machte den harten Reifen noch weniger attraktiv als er ohnehin schon war. Die Teams hielten ihn nur für Notfälle oder alternative Strategien in der Hinterhand. Red Bull überlegte kurz, mit den harten Sohlen zu starten, um Max Verstappen und Sergio Perez mit langen Stints aus dem Verkehr zu bringen, doch Verstappen meldete schon bei den Runden auf den Startplatz: "Unmöglich. Ich bringe ja nicht mal die Soft-Reifen zum Arbeiten."
Ferrari reagiert auf Verstappen
Ferrari schickte seine beiden Fahrer auf Medium-Reifen in die Schlacht. Mit den Boxenstopps in den Runden 17 und 21 war klar, dass ein Einstopp-Rennen nicht mehr in Frage kam. Auf Pirellis mittlerer Mischung war noch alles im grünen Bereich. Leclerc löste George Russell in der 31. Runde als Spitzenreiter ab und zog dem Mercedes innerhalb weniger Runden um 5,4 Sekunden davon. Carlos Sainz hatte Russell im Visier und Max Verstappen im Rückspiegel.
In der Phase sah Leclerc wie ein sicherer Sieger aus. Er hätte den GP Ungarn wahrscheinlich gewonnen, hätte Ferrari nicht panisch auf Verstappens frühen zweiten Boxenstopp sofort reagiert. Doch Verstappen fuhr ein anderes Rennen. Von seiner scheinbar aussichtslosen Startposition konnte Red Bull die Karte Risiko spielen und die Konkurrenz mit frühen Boxenstopps aus der Reserve locken. Man hatte ja nichts zu verlieren. Insofern war die Aufgabe einfacher als für Ferrari.
Mit dem Stopp in Runde 39 war klar, dass Leclerc die harten Reifen nehmen musste. Medium-Sohlen hatte er nicht mehr im Angebot. "Der Wechsel kam zu früh, und wir mussten deshalb die falschen Reifen nehmen. Die harten Dinger waren der Killer für mich. Ich habe einen dritten Boxenstopp zu Soft-Reifen gebraucht. Der hat mich 20 Sekunden gekostet. Dazu noch die sechs Sekunden, die ich auf den harten Reifen verloren habe", klagte Leclerc. Im Ziel fehlten im 16 Sekunden auf Sieger Verstappen. Man muss kein Mathematiker sein, um auszurechnen, wo der Sieg verloren ging.

Falsche Simulation für harten Reifen
Nach Leclercs Rechnung hätte ein späterer Boxenstopp auf Soft-Reifen ihm noch alle Chancen gelassen, das Rennen zu gewinnen, auch wenn er dann Verstappen auf der Strecke hätte überholen müssen. Teamchef Mattia Binotto glaubt nicht daran: "Wir hatten zum ersten Mal in dieser Saison kein Siegerauto. Carlos Sainz ist vor Hamilton gestartet und trotz gleicher Strategie und Reifenfolge hinter ihm ins Ziel gekommen. Das zeigt, dass wir zu langsam waren und mit keiner Strategie erfolgreich gewesen wären."
Der Mann mit der Harry-Potter-Brille verteidigt auch den Einsatz der harten Reifen bei Leclerc: "Nach unseren Simulationen sollten sie nach zehn Runden den Medium-Reifen überlegen sein. Diese Annahme war offensichtlich falsch. Hätten wir das gewusst, hätten wir den harten Reifen auch nie genommen. Wir haben deshalb bei Sainz reagiert und ihn auf Soft-Reifen gestellt."
Mit seiner Analyse stellte sich Ferraris Capo vor seine Techniker und Strategen. Die müssen sich fragen lassen, warum der überlegene Speed des Freitagstrainings verloren ging, während alle anderen im Vergleich zum Freitag besser wurden. Es kann eigentlich nur bedeuten, dass Ferrari zu konservativ auf die gesunkenen Temperaturen und die Änderung der Windrichtung um 180 Grad reagiert hat.
Ferrari geht in Klausur
Eine Aussage von Binotto lässt aufhorchen. "Irgendetwas hat den Reifen zu stark zugesetzt." Carlos Sainz machte eine ähnliche Entdeckung. "Am Freitag hatten trotz der Hitze keine Probleme mit der Reifenabnutzung. Am Sonntag begannen sie jeweils nach 15 Runden abzubauen." Am Sonntag in der Qualifikation hatte man eher das Gegenteil im Verdacht. Ferrari tat sich schwer, die Reifen in ihr Arbeitsfenster zu bringen, so als hätte man Angst, sie könnten im Rennen zu stark einbrechen. Und ausgerechnet Mercedes zündete seine Reifen sofort an, was den Silberpfeilen in dieser Saison noch nie gelungen war.
Doch Mercedes zahlte nicht den Preis für die ungewöhnliche Qualität. Lewis Hamilton dehnte seinen zweiten Stint auf 32 Runden aus und war am Ende immer noch schnell. "Das hätten wir auch machen sollen", beharrte Leclerc. Der WM-Zweite glaubte auch nicht an die Theorie, dass die gesunkenen Temperaturen Ferrari aus der Bahn geworfen hätten. "Auf den Medium-Reifen war mein Auto konkurrenzfähig."
Ferrari wird vor der Sommerpause noch in Klausur gehen und das Wochenende von Budapest aufarbeiten. ""Wir müssen als Team besser werden und verstehen, was wir falsch gemacht haben", fordert Leclerc. Nachsatz: "Wenn sich das wiederholt, haben wir keine Chance." Da ist Binotto einer Meinung mit seinem Chefpiloten: "Wir müssen aus diesem Rennen die richtigen Lehren ziehen."