Derek Warwick wurde für das letzte Rennen des Jahres als Sportkommissar mit Rennerfahrung nominiert. Der 67-jährige Engländer wünschte sich vor dem großen Finale nur eines: "Ich will nicht, dass dieser Grand Prix in unserem Büro endet." Genau das ist passiert. Es dauerte viereinhalb Stunden, bis Max Verstappen als Weltmeister feststand. Vorläufig, denn Mercedes will über eine Berufung gegen das Urteil der Sportkommissare nachdenken. Dazu haben sie 96 Stunden Zeit.
53 Runden lang war der GP Abu Dhabi ein ganz normales Rennen. Nicht das aufregendste des Jahres, aber das konnte man von dieser verrückten Saison auch nicht verlangen. Doch dann schlug das Schicksal wieder zu, und zwar mit einer Pointe, die man sich noch weniger ausdenken konnte als die Dramen des vorletzten Rennens in Saudi-Arabien. Nicholas Latifi feuerte seinen Williams in Kurve 14 in die Bande. Die Lage des Wracks und der Trümmersalat auf der Strecke rechtfertigten ein Safety Car. Es liegt ohnehin im Ermessen des Rennleiters, wann er ein Rennen neutralisiert. Er muss seinen Kopf hinhalten, wenn ein Gefahrenmoment aus seiner Entscheidung entsteht.

Formel 1 wünschte sich Finale im Renntempo
Der Mercedes-Kommandostand ahnte, was nun folgen würde. Die Neutralisation radierte Lewis Hamiltons 11,9 Sekunden-Vorsprung auf Verstappen aus und schenkte dem Holländer einen Boxenstopp, bei dem er für den finalen Sprint weiche Reifen aufziehen konnte, während die harten Sohlen des Mercedes-Piloten schon 44 Runden auf der Lauffläche hatten. Mercedes waren als Spitzenreiter die Hände gebunden. Wäre Hamilton an die Box gekommen, wäre Verstappen auf der Strecke geblieben und hätte die Führung geerbt. Bleibt er draußen wie geschehen, hat Verstappen beim Re-Start die besseren Reifen.
Immer vorausgesetzt, dass dieses Rennen überhaupt wieder angepfiffen werden konnte. Die meisten neutralen Zuschauer wünschten sich das, denn ein Ende mit Schrittgeschwindigkeit und Überholverbot wäre dieser WM nicht würdig gewesen. FIA-Rennleiter Michael Masi durfte das nicht interessieren. Vor einem Re-Start musste zuerst der zerstörte Williams aus dem Weg geschafft, dann die überrundeten Fahrer aufgefordert werden, sich zurückzurunden.
Hin und Her beim Zurückrunden
Das war in vier Runden nur in einem Hauruckverfahren möglich. Zunächst zweifelte auch die Rennleitung daran, dass es auf sicherem Weg möglich sei. Um 18.27 Uhr Ortszeit teilte sie auf ihrer Informationsseite mit, dass ein Zurückrunden nicht erlaubt werde. Das hätte Hamilton den Sieg gerettet, weil zwischen ihm und Verstappen fünf Fahrer mit einer Runde Rückstand lagen. Prompt meldete sich Red Bull-Teamchef Christian Horner am Funk und forderte von Michael Masi die Einhaltung der Regel 48.12 auf. Die besagt, dass die überrundeten Fahrer gebeten werden, die Spitze zu überholen.
Vier Minuten später reagierte Masi. Sein Befehl richtete sich jedoch nur an Lando Norris, Fernando Alonso, Esteban Ocon, Charles Leclerc und Sebastian Vettel. Eben jene Autos, die die beiden WM-Kandidaten trennten. Die ebenfalls überrundeten Daniel Ricciardo, Lance Stroll und Mick Schumacher blieben, wo sie waren. Es hätte zu viel Zeit gekostet, sie rechtzeitig zurückrunden zu lassen. So kam es zum Traumfinale, aus dem nach der Zielflagge ein Alptraum wurde.
Verstappens Überholmanöver in der Haarnadel entschied die WM nach 6.406 von 6.409 Kilometern. Dachte man. Eine Stunde nach dem Rennen flatterte der Rennleitung ein Protest von Mercedes ins Haus. Das verdarb Red Bull die Feierstimmung. Der Weltmeister auf Abruf regte sich künstlich darüber auf, dass neben Teammanager Ron Meadows und Chefingenieur Andrew Shovlin noch der Hausjurist Paul Harris bei den Sportkommissaren auf der Matte stand. "Wir sind ein Rennteam und haben deshalb keinen Anwalt dabei. Weil wir nicht mit der Absicht hierher gekommen sind zu protestieren."
Nun, der Red Bull-Anwalt war vielleicht nicht vor Ort, er hat aber mit Sicherheit von Milton Keynes aus dem Team assistiert. Die Argumentation, warum die Freigabe des Rennens in der letzten Runde doch gerechtfertigt war, kam garantiert von einem Juristen. Das verrät allein die Formulierung.
Rennleiter hat volle Autorität
Mercedes legte gegen zwei Verfehlungen Einspruch ein. Der eine Punkt war etwas kleinlich, denn Verstappen hatte hinter dem Safety Car nur kurz die Nase seines Red Bull an Hamilton vorbeigestreckt. "Das passiert beim Bremsen und Gasgeben vor dem Re-Start immer wieder und ist nicht als Überholmanöver hinter dem SafetyCar zu werten", richteten die Schiedsrichter aus.
Die andere Vorwurf zielte darauf ab, dass der Re-Start irregulär war und das Rennen mit der 57. Runde und dem Weltmeister Hamilton hätte gewertet werden müssen. Einmal, weil von den acht überrundeten Fahrer nur fünf zu ihrem Recht kamen. Dann weil das Safety Car nach dem Zurückrunden des letzten Autos erst in der folgenden Runde an die Boxen hätte kommen dürfen. Das aber wäre das Ende von Runde 58 gewesen. Damit wäre das Rennen hinter dem Safety Car zu Ende gegangen.
Die Einwände wurden zugelassen, aber abgeschmettert. Das erste aufgrund von Wortklauberei, wie sie nur Juristen einfallen kann. Im Text steht beim Zurückrunden "any car" statt "all cars", und das sei nicht gleichbedeutend mit "allen überrundeten Autos". Deshalb auch nicht verpflichtend.
Der Rennleiter hat nach Ansicht der Sportkommissare gemäß Artikel 15.3 beim Einsatz des Safety Cars die volle Autorität. Also liegt es auch in seinem Ermessen, wann er es rauschickt und wieder an die Box holt. Entscheidend war Masis Meldung um 18.31 Uhr, als er die Teams über das Ende der Neutralisation informierte. Die Meldung "Safety Car in this lap" mache diesen Befehl zur Pflicht, egal ob er gegen die Regel verstößt oder nicht.

Brawn fordert Ende der Rennleiter-Konferenz
Masis Kurzschlussreaktion war auch dem Druck geschuldet, den die Teamchefs der beiden WM-Kandidaten während des Rennens auf ihn ausübten. Schon in der Anfangsphase war es zwischen der Red Bull-Box und Masi zu einem hitzigen Dialog gekommen, weil Hamilton nach Meinung von Red Bull einen Platz hätte hergeben müssen, als ihn Verstappen bei einem Angriff wieder mal in die Auslaufzone gedrängt hatte. Masi belehrte Teammanager Jonathan Wheatley: "Max hat Lewis abgedrängt, und Lewis hat den Zeitgewinn durch das Abkürzen wieder hergegeben."
Red Bulls weitere Kommentare zielten wieder darauf ab, der Welt zu zeigen, dass man immer das unschuldige Opfer sei. Der Verdacht einer parteiischen Obrigkeit wurde nach Masis erster Ankündigung, dass Zurückrunden der Autos hinter dem Safety Car in diesem speziellen Fall nicht gestattet ist, noch erhärtet. "Wieder typisch, diese Entscheidung", giftete Verstappen am Funk und unterstellte dem Rennleiter damit eine Mercedes-freundliche Haltung.
Wolffs Bitte, bei Giovinazzis Ausfall das Safety Car wegzulassen und Horners Forderung, die überrundeten Fahrer vorbeizuwinken, gossen weiteres Öl ins Feuer. "Das ist so, als würden die Trainer beim Fußball mit dem Schiedsrichter verhandeln", ärgert sich Formel 1-Sportdirektor Ross Brawn. Masi seinerseits wusste, dass es ein unausgesprochener Wunsch der Rechteinhaber war, diesen Grand Prix im Renntempo zu Ende gehen zu lassen. Er verteidigte sich vor dem FIA-Gericht mit dem Hinweis, dass alle Teams schon vor langer Zeit den Wunsch geäußert hätten, ein Rennen wenn möglich unter grüner Flagge zu Ende gehen zu lassen.
Ross Brawn wusste nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte: "Die Entscheidung in der letzten Runde ist ein Highlight, das man nicht toppen kann. Leider nimmt der Protest diesem Finale ein bisschen den Glanz." Der Engländer nimmt den viel kritisierten Rennleiter Masi in Schutz: "Es kann nicht angehen, dass die Teamchefs während des Rennens Michael so unter Druck setzen. Toto Wolff kann nicht fordern, dass kein Safety Car kommen soll, und Christian Horner kann nicht verlangen, dass sich die Autos zurückrunden müssen. Das liegt im Ermessen des Rennleiters. Wir werden diesen Kontakt im nächsten Jahr unterbinden."