F1-Analyse: Die Profiteure der F1-Regelreformen

Die Profiteure der F1-Regelreformen
Früher Entwicklungsbeginn hilft

Jeder Neustart hat seinen Reiz. Immer wenn die Karten neu gemischt werden und alle bei null beginnen müssen, machen sich die Fans Hoffnungen auf ein neues Kräfteverhältnis und die ein oder andere Überraschung. Diesmal steht die Stunde null unter einem besonderen Stern. Das neue Technische Reglement ist so restriktiv, dass kaum noch Spielraum für die große Idee bleibt. Und zum ersten Mal hatten alle Teams für die Entwicklung der neuen Autos ähnlich viel Geld zur Verfügung.

Wenigstens in der Theorie. Haas-Teamchef Guenther Steiner schätzt den Unterschied zwischen Klein und Groß bei den für die Fahrzeugentwicklung relevanten Ausgaben auf höchstens zehn Millionen Dollar. "Früher hatten die großen Teams drei Mal so viel in der Tasche wie wir." 2021 erlaubte die Budgetdeckelung den Teams Ausgaben in der Höhe von 145 Millionen Dollar. Zuzüglich 4,8 Millionen für zusätzliche oder neu angesetzte Rennen.

Einen Vorteil haben Mercedes, Red Bull und Ferrari immer noch. Sie konnten sich in den fetten Jahren eine Basis schaffen, von der sie heute zehren. "Sie haben die besseren Technologien und Prüfstande, mehr Erfahrung und Daten", erklärt Steiner. Und auch mehr Personal. Die Top-Teams arbeiten immer noch mit 700 bis 800 Leuten. Bei Haas sind es inklusive Dallara rund 230 Mitarbeiter. Alfa Romeo und Williams liegen bei 500.

Sechs Mal neue Motorenformate

Die Konstante in der Formel 1 ist der Wandel. Es gibt praktisch kein Jahr, in dem die Regeln nicht geändert werden. Doch nur grundlegende Eingriffe in die Architektur der Autos verdienen das Prädikat einer Reform. Und selbst da gibt es Unterschiede. 1952, 1954, 1961, 1966, 1989 und 2014 zwangen neue Motorenformate zu einem Neunbeginn. Die natürlich auch Auswirkungen auf die Autos hatten.

In den Jahren 1994, 1998 und 2017 blieben die Rahmenbedingungen für die Formen der Autos gleich, nur die Plattform änderte sich. Und damit auch einige aerodynamische Gesetzmäßigkeiten. 1994 wurden elektronische Fahrhilfen verboten. Ohne aktive Aufhängung war es viel schwieriger die Autos aerodynamisch stabil zu halten.

1998 schrumpften die Autos um 20 Zentimeter in der Breite. Dazu gab es Rillenreifen statt Slicks. 19 Jahre später ging die Formel 1 den umgekehrten Weg. Die Autos durften wieder zwei Meter breit sein. Einmal mussten die Aerodynamiker mit weniger nutzbarer Oberfläche auskommen, dann gab es plötzlich viel mehr Platz um Anpressdruck zu erzeugen. Beides hatte konzeptionelle Folgen. 1998 reagierten die Konstrukteure mit längeren Radständen, 2017 mit schmaleren Heckpartien und einem komplexen Geflecht an Leitblechen.

Adrian Newey - Red Bull - 2021
Red Bull

Die drei großen Einschnitte

Die Regelreform für die kommende Saison 2022 hat eine ganz andere Dimension. Red Bull-Stardesigner Adrian Newey will sie nur mit dem Jahr 1983 vergleichen, als genau das Konzept verboten wurde, das jetzt segensreich wirken soll. Damals schrieb die FIA einen flachen Unterboden zwischen den Achsen vor, um zu verhindern, dass die Konstrukteure Abtrieb unter dem Autos suchen. Die Groundeffect-Ära hatte innerhalb von nur sechs Jahren die Rundenzeiten um bis zu 13 Sekunden gedrückt.

Auch 2009 zählt zu den großen Einschnitten in der Technik-Historie der Königsklasse. Es war der erste Versuch das Überholen zu erleichtern, indem man die Turbulenzen, die ein Auto nach hinten abstrahlt, reduziert. Das Unternehmen ging grandios schief. Aber es gab den Autos mit größeren Frontflügel, kleineren Heckflügeln und dem Verbot sämtlicher Aufbauten auf der Verkleidung ein neues Gesicht. Dazu kam die Rückkehr zu Slicks und die Einführung von KERS-Hybridsystemen.

Das korrespondiert mit den Regeländerungen für 2022. Auch diesmal besteht das große Ziel darin, das Fahren im Verkehr zu erleichtern. Dazu muss mehr Abtrieb unter dem Auto erzeugt werden, um die Fläche auf der Oberseite zu reduzieren, die verwirbelte Luft produzieren könnte. Wie 2009 kommen auch an zwei anderen Fronten neue Bestimmungen dazu. Die Autos rollen ab sofort auf Niederquerschnittsreifen mit 18 statt 13 Zoll. Und die Motoren werden mit E10-Kraftstoff gespeist. Das verlangt neue Verbrennungsprozesse.

Mick Schumacher - Haas - Formel 1 - GP Türkei - Istanbul - 8. Oktober 2021
Motorsport Images

Profitieren die Früheinsteiger?

Die elf großen Regeländerungen werfen die Frage auf, wer davon profitiert hat. Hat sich überhaupt etwas geändert am Kräfteverhältnis? Und wenn ja, haben immer die großen und reichen Teams einen Nutzen daraus gezogen? Gab es einen Profiteur oder mehrere? War ein konservativer Ansatz besser als die geniale Idee? Haben viele Wege zum Ziel geführt oder nur einer? Welche Rolle spielte die Vorbereitungszeit?

Der große gemeinsame Nenner lässt sich nicht erkennen. Nur ein erfolgversprechender Faktor zieht sich durch alle Epochen: Es hat immer geholfen, wenn man früh mit der Entwicklung des neuen Autos begonnen hat. Und wenn man einen klaren Plan hatte. Wer zu lange am Vorjahresmodell fest hing, hat sich oft genug bestraft. Wenn sich die Serie fortsetzt, müssten in diesem Jahr die Teams profitieren, die früh auf das 2022er Auto umgeschwenkt sind.

Haas ging schon im Januar mit dem neuen VF-22 in den Windkanal. Alfa Romeo im Mai. Mercedes, Alpine und Ferrari stellten im Juli um. Am meisten Zeit ließen sich Red Bull und McLaren. Sie hatten allerdings eine Methode entwickelt, die ihnen für einen gewissen Zeitraum Parallelentwicklung ermöglichte. Immer wenn in einer Windkanalperiode etwas Zeit übrig blieb, wurde das alte Auto noch einmal in die Anlage gestellt.

Lewis Hamilton & Stirling Moss - Monza - Mercedes - 2015
Wilhelm / Seufert

Die Regeländerungen der 50er Jahre

1952 beförderte die FIA mangels Formel-1-Autos die Formel 2 zur Königsklasse. Ferrari musste sich gar nicht groß vorbereiten. Man hatte schon im Jahr davor das beste Formel-2-Auto. Der Ferrari 500 war praktisch unschlagbar. Und es fehlten die Gegner. Alfa Romeo hatte sich zurückgezogen. Maserati wachte viel zu spät auf. Gordini war nur zweitklassig.

Zwei Jahre später wurde der Hubraum der Motoren von zwei auf 2,5 Liter erhöht. Ein Steilpass für Mercedes. Die Marke mit dem Stern reduzierte sein Motorsportprogramm 1953 auf nahezu null, um sich auf die Konstruktion des Mercedes W196 zu konzentrieren. Trotzdem verpassten die Untertürkheimer die ersten beiden Rennen. Rennleiter Alfred Neubauer wollte erst antreten, wenn alle Kinderkrankheiten beseitigt waren. Es reichte trotzdem zum WM-Titel. Mercedes stellte ein Auto hin, das die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Die lange Entwicklungszeit zahlte sich aus.

Lancia wäre mit dem D50 ein Konkurrent gewesen, doch die Italiener waren mit ihrem Programm noch mehr in Verzug. Und ihnen fehlte das Geld, die exzellente Basis entsprechend weiterzuentwickeln. Ferrari schoss sich mit seinem halbgaren 553 Squalo ein Eigentor. Mit einem aufgemotzten Formel-2-Auto war man gegen die deutsche Präzisionsmaschine chancenlos.

Brabham BT19 GP Australien Classics
Grüner

FIA-Schlingerkurs beim Motor

1961 machte der Weltverband aus Sicherheitsgründen mit 1,5 Liter-Motoren wieder einen Schritt zurück. Erneut zahlte es sich Ferrari aus, schon ein Auto in der Hinterhand zu haben, das sich bei den Formel-2-Rennen bewährt hatte. Ferrari sympathisierte von Anfang an mit dem neuen Reglement und baute gleich zwei V6-Motoren für den Start in die 1,5 Liter-Ära. Mit Bankwinkeln von 65 und 120 Grad. Die englischen Teams wollten die Abrüstung lange nicht wahrhaben und sprangen erst auf den Zug auf, als die FIA ernst machte. Cooper, Lotus und B.R.M. hatten gute Chassis aber lahme Motoren. Das änderte sich als Climax und B.R.M. ab 1962 auf acht Zylinder setzten.

Der Schlingerkurs der Regelmacher in Paris setzte sich fort. Ab 1966 wurde auf drei Liter Hubraum, 1,5 Liter-Turbos, Gasturbinen und Wankelmotoren aufgerüstet. Also das totale Kontrastprogramm. Damit änderten sich auch die Autos. Sie wurden größer und schwerer. Den Weltmeister hatte keiner auf der Rechnung. Nicht die Sieger von 1965 setzten sich durch, sondern Brabham mit einem Motor namens Repco. Lotus, B.R.M., Honda und Ferrari schauten in die Röhre, weil ihre neuen Motoren spät fertig wurden, entsprechend anfällig waren und sie die falschen Prioritäten setzten.

Jack Brabham antizipierte, dass er im Niemandsland mit einem konservativen Ansatz gewinnen würde. Sein BT19 war leicht, gutmütig und hatte eine geringe Stirnfläche. Der Repco V8 aus Melbourne hatte deutlich weniger Leistung als die Zwölfzylinder von Ferrari, Honda oder Maserati, aber er war zuverlässig und gut fahrbar. Das Paket funktionierte so gut, dass es auch noch 1967 den Titel holte.

Mercedes - GP USA 2014
Wilhelm

Das Erfolgskonzept von Honda und Mercedes

Das Turbo-Zeitalter in den 80er Jahren brachte die Automobilkonzerne in die höchste Spielklasse. Um das Wettrüsten der Motoren zu stoppen, ließ die FIA ab 1989 nur noch 3,5 Liter Saugmotoren zu. Es wurde noch teurer. Auch für die Chassishersteller. Die Zehn- und Zwölfzylinder nahmen im Heck mehr Platz weg als die kleinen 1,5 Liter Turbos.

McLaren-Honda verteidigte seine Spitzenposition. Hauptsächlich deshalb, weil Honda vor allen anderen mit der Entwicklung seines V10 begonnen hatte. Und weil McLaren seiner Fahrzeugphilosophie treu blieb, während Ferrari mit dem halbautomatischen Getriebe und Williams mit der aktiven Aufhängung neue Wege bestritten, die sich erst später auszahlen sollten.

Die Erfolgsstory von Mercedes ab 2014 liest sich ähnlich. Die Weltraumtechnik mit dem 1,6 Liter-Turbo und zwei Elektromaschinen verlangte viel Entwicklungszeit. Mercedes bremste Ferrari, Renault und Honda mit drei Trumpfkarten aus. Die Ingenieure in Brixworth legten sich schon zwei Jahre vor dem Start des neuen Reglements ins Zeug.

Sie stellten sicher, dass alle Komponenten der neuen Antriebseinheit unter einem Dach hergestellt wurden. Und sie zapften die Expertise der Serienentwickler an, dort wo es hilfreich war. Die Chassis-Ingenieure in Brackley hatten ihre Lektion nach vier harten Jahren gelernt. Daraus wurden acht Konstrukteurs-Titel in Folge.

Michael Schumacher - Benetton B194 - Damon Hill - Williams FW16B - GP Australien 1994 - Adelaide
Motorsport Images

Elektronik-Verbot stellte Weltmeister ein Bein

Mercedes brachte nicht einmal eine Aerodynamik-Aufrüstung 2017 zu Fall. Autos und Reifen wurden breiter. Mehr Fläche bedeutete mehr Abtrieb. Fast alle Teams folgten Red Bull und stellten ihre Autos immer steiler an. Mercedes hielt das Heck flach und kompensierte das durch Länge. Das war gut genug, den Angriff von Ferrari und Red Bull abzuwehren, obwohl der Motor-Vorteil mit den Jahren immer mehr schrumpfte.

Das Elektronik-Verbot 1994 dagegen stellte dem amtierenden Weltmeister ein Bein. Der Williams erwies sich ohne die Niveauregulierung als aerodynamisch extrem heikel. Adrian Newey brauchte ein halbes Jahr, um seinem Auto die Fehler auszubauen. Benetton ging den umgekehrten Weg. Der damalige Technikchef Ross Brawn erinnert sich: "Wir haben früh kapiert, dass die Regeländerungen für 1994 einen riesigen Unterschied ausmachen würden. Deshalb bat ich Rory Byrne mit der Entwicklung des 1994er Autos so früh wie möglich zu beginnen. Er hat dann schon zu Beginn des Jahres 1993 eine kleine Spezialgruppe gebildet, die an das nächste Jahr dachte. Wir haben den Schwerpunkt so tief wie möglich gelegt und den Abtrieb so stabil wie möglich gehalten. Der Motor entstand in Zusammenarbeit mit den Chassis-Ingenieuren um eine perfekte Integration zu ermöglichen. Der Benetton B194 hat uns für diesen Einsatz belohnt."

Auch 1998 änderte sich die Hackordnung. Hatten vorher noch Williams und Ferrari dominiert, so war im ersten Jahr der 1,80 Meter breiten Autos und der Rillenreifen McLaren die erste Kraft. Adrian Newey hatte sich für seinen ersten McLaren extra viel Zeit genommen und als erster erkannt, dass man Länge braucht, wenn man Breite verliert. Er vergrößerte den Abstand zwischen Vorderrädern und Seitenkästen, um in dem Bereich die Strömung zu beruhigen. Als die Konkurrenz den Trick entdeckte, wurden mitten in der Saison 1988 die Radstände hektisch verlängert. Da war es schon zu spät.

Brabham BT52 - BMW Motor M12/13 - Revision 2019
BMW

Kein eindeutiger Sieger 1983

Kommen wir nun zu den beiden Jahren, die mit 2022 vergleichbar sind. Beim Übergang vom profilierten zum flachen Unterboden waren alle Teams spät dran. Viele hofften bis zuletzt, dass die FIA das Verbot der Groundeffect-Autos nicht wahrmachen würde. Brabham hatte sogar schon einen Nachfolger für den BT50 nach dem bestehenden Reglement gebaut, als Gordon Murray im Herbst 1982 zu einer 180-Grad-Wende gezwungen wurde.

Es gab 1982 auch keinen eindeutigen Favoriten. Sieben unterschiedliche Autos stellten den Sieger. Das änderte sich auch 1983 nicht. Im ersten Jahr der neuen Formel standen sechs verschiedene Fahrzeuge in der Siegerliste. Die Ingenieure tappten nach fünf Jahren Groundeffect-Technologie völlig im Dunkeln.

Das produzierte optisch höchst unterschiedliche Autos. Die Delta-Segler Brabham, Ligier und Tyrrell. Autos mit langen Seitenkästen wie der Lotus, Renault, Arrows, ATS und der Alfa Romeo. Oder mit kurzen wie der Ferrari, Williams, March oder Spirit. Den Toleman mit zwei Heckflügeln. Den McLaren mit der Flaschenhalsform.

Am Ende konnte vor allem der Brabham BT52 glänzen. Es lag nicht unbedingt am Auto oder an dem pfeilförmigen Konzept. Der BMW Vierzylinder-Turbo lieferte in der zweiten Saisonhälfte dank einer aggressiven Kraftstoffentwicklung die meiste Leistung. In der aufblühenden Turbo-Ära konnte Leistung das ein oder andere Defizit beim Auto überdecken.

Ross Brawn - BrawnGP 001
Daniel Reinhard

BrawnGP trickst alle aus

Das bislang zweite große Erdbeben in der Formel 1 brachte mit BrawnGP und Red Bull zwei neue Player ins Spiel. McLaren und Ferrari, die Dominatoren der vorangegangenen Jahre, bekamen neue Konkurrenz. Ross Brawn hatte wie schon bei Benetton 1994 mit seiner Masche Erfolg: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Honda klinkte sich schon in Mai 2008 aus der Entwicklung des hoffnungslosen RA108 aus und arbeitete mit Volldampf an einem Nachfolger.

Nicht einmal der Rückzug von Honda und ein kurzfristiger Motorwechsel zu Mercedes konnte dem Projekt etwas anhaben. Es lebte von einem Trick, den nur drei Teams von Anfang an in ihren Autos einbauten. Aber keiner so perfekt wie BrawnGP. Der Doppeldiffusor war ein echter Matchwinner.

Auch Adrian Newey hatte einen Geistesblitz. Für eine schlanke Taille im Heck stellte er an der Hinterradaufhängung von Druck- auf Zugstreben um. Bis er seinen RB5 mit einem Doppeldiffusor nachgerüstet hatte, war der Gegner schon mit einem Bein Weltmeister. 

Das enge Regelkorsett macht es sehr unwahrscheinlich, dass sich diese Geschichte in diesem Jahr wiederholt. Die Spielräume sind extrem eng, und die FIA hat ein waches Auge darauf, dass keiner zu deutlich den anderen davonfährt. Ferrari-Teamchef Mattia Binotto glaubt nicht an einen sichtbaren Aero-Trick. Seiner Meinung nach werden die entscheidenden Unterschiede unter der Verkleidung versteckt sein.