Beim Blick auf die ersten elf Rennen des Jahres wird sich der ein oder andere Fan sicher fragen, warum die Formel 1 in der kommenden Saison unbedingt neue Autos braucht. Fast jeder Grand Prix war ein Knüller. Über mangelnde Spannung und fehlende Action konnte sich niemand beschweren.
Doch im kommenden Jahr soll alles noch viel besser sein, versprechen die F1-Oberhäupter. Bereits seit 2017 wurde fieberhaft am neuen Reglement gearbeitet. "So eine lange Vorlaufzeit hatten wir noch bei keiner anderen neuen Autogeneration zuvor", erklärt F1-Technikchef Pat Symonds nicht ohne Stolz.
Zuerst wurde analysiert, was die Zuschauer überhaupt wollen und wo es aktuell hakt. Danach formulierte man zwei Kernziele: Die Autos sollen moderner und aggressiver aussehen. Und sie sollen sich auf der Strecke dichter folgen können, was im Idealfall zu mehr Zweikämpfen und mehr Überholmanövern führt.
Anschließend zapften die Regelschreiber die Rechenkapazitäten der Teams an, um umfangreiche Computersimulationen (CFD) durchzuführen. Aus den Erkenntnissen entstand dann ein 50-Prozent-Modell, mit dem die F1-Experten im Windkanal bei Sauber in Hinwil überprüften, ob die errechneten Daten auch der Realität entsprechen.

14 Monate Entwicklung
Eigentlich sollte die neue Rennwagengeneration schon 2021 eingeführt werden. Doch Corona verzögerte alles um zwölf Monate. Um die Teams daran zu hindern, vorschnell loszulegen, fiel der Startschuss für die Windkanaltests in den Fabriken erst im Januar 2021. Bis zum Auftakt der Testfahrten Ende Februar 2022 bleiben den Ingenieuren also nur gut 14 Monate Zeit, um die neue Rennwagengeneration auf die Räder zu stellen.
"Der Wechsel ist noch größer als 2009 oder 2014. Es ändert sich einfach alles", stöhnt Alpha-Tauri-Technikchef Jody Egginton. "Das fängt bei den finanziellen Rahmenbedingungen an und hört bei der komplett neuen Aerodynamik-Philosophie auf."
Wenn der Brite von einer neuen Aerodynamik-Philosophie spricht, meint er vor allem den Wechsel auf das Ground-Effect-Konzept. Der Begriff sagt aus, dass der Großteil des Anpressdrucks nicht über die Flügel auf der Oberseite des Autos gewonnen wird, sondern über den Unterboden.
Ground-Effect-Autos gab es in der Formel 1 schon in den 70er- und 80er-Jahren. Damals wurde einfach das ganze Chassis seitlich abgedichtet, zum Beispiel durch Schürzen. Jetzt haben sich die Regelschreiber für große Luftkanäle im Unterboden entschieden, um einen Unterdruck zu erzeugen, der das Auto auf den Asphalt saugt.
Die Verantwortlichen haben mit einem sehr restriktiven Gesetzestext versucht, die Möglichkeiten für individuelle Lösungen zu reduzieren. Das soll das ganze Feld enger zusammenbringen. Laut Egginton gibt es aber immer noch genügend Freiheiten: "Wir haben alleine beim Unterboden mehrere unterschiedliche Lösungen auf dem Tisch, die sich innerhalb der sogenannten Legalitätsboxen bewegen. Wir müssen jetzt die richtige Lösung auswählen."
Viel Zeit bleibt nicht mehr, solche grundlegenden Entscheidungen hinauszuzögern. "Es geht jetzt darum, erst einmal das richtige Konzept zu finden, bevor man sich an die Feinarbeit macht. Es kann sich aber hinterher herausstellen, dass man den komplett falschen Weg eingeschlagen hat. Da müssen alle Teams kreativ sein und auch mal ungewöhnliche Denkansätze zulassen", erklärt Egginton.

Wer findet den Supertrick?
Wie immer bei großen Regelreformen besteht die Gefahr, dass ein Team eine Lücke im Reglement findet, die große Vorteile verspricht. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist der Doppeldiffusor, der Brawn 2009 sensationell zum Titel verhalf. Bis die Konkurrenz nachgezogen hatte, war Jenson Button in der Fahrerwertung schon weit enteilt.
"Ich würde es natürlich nicht verraten, wenn wir schon den Supertrick gefunden hätten", grinst Egginton. "Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir so etwas Großes noch einmal sehen. An der Erstellung des 2022er-Reglements waren deutlich mehr Leute von der FIA und der F1-Gruppe beteiligt, die über mehr Erfahrung verfügen als die Verantwortlichen damals. Deshalb glaube ich nicht, dass es einen riesigen Trick gibt. Aber selbst mit vielen Einschränkungen im Reglement findet man immer irgendwas, das die anderen nicht wissen."
Den Ingenieuren sind bei der Gestaltung ihrer Autos ordentlich die Hände gebunden. Selbst Technik-Laien dürften erkennen, dass zum Beispiel der Frontflügel deutlich einfacher geformt ist als bisher. Das soll die Abhängigkeit von einer sauberen Anströmung reduzieren und die Aerodynamiker davon abhalten, den Luftstrom gezielt zum Heck zu dirigieren.
Auch Bargeboards und andere Leitbleche zwischen den Rädern verschwinden. Erlaubt ist nur noch eine gebogene Finne über der Vorderachse, mit der die verwirbelte Luft an den Rädern direkt am Entstehungspunkt beruhigt wird. Die Turbulenzen können sich nicht so stark nach außen eindrehen. Davon sollen vor allem die Autos dahinter profitieren.

Keine Einheitsautos
Egginton sieht die Herausforderung sportlich: "Es gibt keine Leitbleche mehr, mit denen man herumspielen kann. Das macht uns das Leben einerseits schwerer, aber auf der anderen Seite auch einfacher. Die Reglementschreiber haben sich viel Mühe gegeben, dass wir die Luftströmung nicht mehr dazu verwenden, den Unterboden abzudichten. Man muss die Dinge nun aus einer ganz neuen Perspektive betrachten."
Um den Aerodynamikern zu helfen, hatten die Verantwortlichen kurz über eine Rückkehr zu aktiven Aufhängungen diskutiert. Damit hätte man Nick- und Rollbewegungen des Autos ausgleichen können, was eine saubere Strömung am Unterboden ermöglicht. "Das hätte aber alles wieder komplizierter und teurer gemacht", winkt Egginton ab.
Einige Kritiker der Reform befürchten, dass sich die Autos durch die vielen Vorgaben kaum noch voneinander unterscheiden. Manch einer spricht schon von einer verkappten Einheitsserie. Dem widerspricht Egginton: "Ich denke, dass wir immer noch Unterschiede erkennen können. Vor allem beim Frontflügel, bei der Form der Nase oder der Gestaltung der Kühleinlässe und der Seitenkästen. Bei der Anordnung der Komponenten unter der Haube sind wir ja nach wie vor sehr frei."
Ein weiterer Kritikpunkt an den neuen Autos ist ihr hohes Gewicht. Schon die 752 Kilogramm der aktuellen Rennwagen halten die Puristen für zu viel. Nach den ursprünglichen Plänen sollte es auf 775 Kilo hochgehen. Doch seit der letzten Überarbeitung stehen nun sogar 790 Kilogramm als Mindestgewicht im Gesetzestext. Laut Egginton kam der Zuwachs nach einer Umfrage bei den Teams zustande. Die neuesten Simulationen hatten gezeigt, dass die ersten Annahmen zu optimistisch ausfielen.

Sicherheit kostet Gewicht
Der Grund für das höhere Gewicht liegt vor allem beim Thema Sicherheit. Die FIA setzte sich mit Nachdruck dafür ein, dass die neue Generation nicht nur besseren Rennsport, sondern den Piloten auch einen besseren Schutz bei Unfällen bietet.
Nikolas Tombazis, der Technik-Chef des Weltverbandes, erklärt, wo der Hebel angesetzt wurde: "Die Nase kann jetzt 50 Prozent mehr Energie absorbieren. Die Piloten sind zudem doppelt so gut gegen seitliche Einschläge geschützt. Wir haben auch Verbesserungen an der Cockpitumrandung und dem Benzintank vorgenommen. Und dazu verlieren die Autos nicht mehr so leicht Carbon-Teile, die dann auf der Strecke rumliegen."
Das höhere Gewicht ist einer der Faktoren, die am Ende zu einem Zeitverlust von mindestens drei Sekunden im Vergleich zu den aktuellen Autos führen werden. Negativ in die Performance-Rechnung gehen auch der um 20 Prozent reduzierte Gesamtabtrieb und die härteren Reifen ein.
Pirelli wagt mit der neuen Generation nun endlich den längst überfälligen Schritt von den 13-Zoll-Ballonreifen auf 18-Zoll-Niederquerschnittsgummis. Auch die Motoren dürften durch die Beimischung von 10 Prozent Biosprit zum Benzin etwas an Leistung verlieren.

Falscher Zeitpunkt?
Damit die Autos trotzdem ordentliche Topspeeds erreichen, hat Egginton schon eine Idee. "Durch den Saugeffekt wird der meiste Abtrieb bei hohen Geschwindigkeiten auf den Geraden produziert. Das belastet die Reifen und kostet Tempo. Da wäre ein kontrollierter Abriss der Strömung eine feine Sache. Die Betonung liegt hier aber auf "kontrolliert". Das darf nur zum geplanten Zeitpunkt passieren – und danach muss die Strömung wieder anliegen."
Bleibt noch die große Frage, ob die Maßnahmen am Ende zum gewünschten Effekt führen. Die Simulationen der Verantwortlichen versprechen, dass der Abtriebsverlust beim Hinterherfahren im Abstand von zehn Metern nur noch 18 Prozent beträgt. Mit den 2021er-Autos gehen aktuell noch 46 Prozent flöten.
Egginton zeigt sich optimistisch. "Von allem, was wir bisher in den Daten gesehen haben, sollte es für die Piloten deutlich einfacher werden, einem anderen Auto dicht hinterherzufahren. Ob das am Ende auch zu mehr Überholmanövern führt, muss man abwarten. Es sollte aber zumindest nicht schlechter werden."
Allerdings schwingt auch beim Technikchef etwas Zweifel mit, ob der Zeitpunkt für die große Revolution richtig gewählt ist: "Vielleicht ist das nur meine Alpha-Tauri-Perspektive, aber die Rennen sind aktuell besser als vor 10 oder 15 Jahren."