Adrian Newey arbeitet seit 1980 in der Formel 1. Über die Stationen Fittipaldi, March, Williams und McLaren kam er 2006 zu Red Bull. In seiner Zeit hat der 63-jährige Engländer acht große Regelreformen miterlebt. Die von 2022 war seiner Meinung nach die größte seit 1983. Weil sie die Aerodynamik des Autos völlig auf den Kopf gestellt hat und ein Prinzip ausgrub, das 1982 verboten wurde.
Als die neuen Regeln zu Papier gebracht wurden, konnte der Weltmeister-Macher seine Enttäuschung nicht verbergen: "Als ich mir vor zwei Jahren zum ersten Mal die Regeln durchgelesen habe, war ich echt frustriert. Sie sahen extrem restriktiv aus." Doch aus einem der größten Kritiker des 2022er Reglements wurde fast ein Fan:
"Ich muss zugeben, dass ich mit der Arbeit an diesen Autos meine Meinung ändern musste. Das Chassis und der Frontflügel bewegen sich zwar in einem sehr engen Rahmen, aber dann gibt es auch Bereiche mit überraschend vielen Freiheiten. Dazu zählen die Seitenkästen und der Unterboden. Die unterschiedlichen Seitenkasten-Formen sind auch für Fans leicht zu unterscheiden. Das ist eine gute Sache."

Newey rechnete mit größeren Abständen
Heute findet er es sogar herausfordernder, an den Autos zu arbeiten, als in den letzten Jahren des abgelaufenen Reglements: "Es ist spannender, weil die Autos so neu sind. Es ist für alle von uns eine steile Lernkurve, die wir durchlaufen. Die letztjährigen Autos waren das Produkt eines langen Entwicklungsprozesses. Das Reglement galt seit Ewigkeiten, und auch wenn es immer wieder Regeländerungen gab, funktionierte alles nach dem gleichen Prinzip."
Newey glaubt, dass die Regeln ihr Ziel erreicht haben. Wenn die Fahrer mal zugestehen, dass Hinterherfahren einfacher und Überholen wieder möglich geworden ist, dann muss es wohl stimmen. Auch die Sorge, dass ein Team die Regeln besser als alle anderen interpretiert und am Horizont verschwindet, hat sich nicht erfüllt. Auch wenn Red Bull 17 von 22 Rennen gewonnen hat.
Die Gegner sind wohl auch über ihre eigenen Füße gestolpert. "Anfangs gab es mit Ferrari und uns zwei Teams auf gleichem Niveau, und am Saisonende wurde Mercedes immer stärker. Ehrlich gesagt, hatte ich mit größeren Abständen gerechnet." Die Zahlen geben Newey recht. Die Zeitabstände sind trotz der Zersplitterung des Feldes im Vergleich zu vorher deutlich geschrumpft. In Austin, Suzuka oder Abu Dhabi lag das Q1-Delta vom Ersten zum letzten zwischen 1,4 und 2,0 Sekunden.
Kein Team hat beste Lösung
Dafür, dass ein Ferrari mit völlig anderen Seitenkästen praktisch so schnell war wie der Red Bull, hat Newey eine überraschende Antwort parat: "Das heißt, dass keiner von uns absolut richtig liegt und es noch etwas besseres geben muss. Man darf Dinge wie Flügel oder die Seitenkästen nie isolieren. Alles funktioniert nur im Paket. Ein Ferrari-Seitenkasten wird nicht zu unserem Unterboden passen und umgekehrt. Es gibt immer eine Interaktion zwischen diesen Elementen."
Der Senior unter den Formel-1-Konstrukteuren hatte erwartet, dass der erste Anlauf mehrere Lösungen auf den Markt warf. Das war schon 1983 so. Doch ein Konzept hatte er nicht auf der Rechnung. "Der Mercedes war eine echte Überraschung. Dieses Schlupfloch hatten wir übersehen." Trotzdem glaubt er nicht, dass Mercedes mit seinem ungewöhnlichen Auto eine Kopierwelle auslöst.
Newey will damit nicht sagen, dass Mercedes in eine Sackgasse geraten ist. "Das ist von außen schwer zu beurteilen. Der Mercedes wurde im Verlauf des Jahres immer besser. Ehrlich gesagt haben wir nicht die Zeit, uns das Konzept im Detail anzuschauen. Unter einem Budgetdeckel kannst du dir diesen Luxus nicht mehr leisten. Deshalb trittst du erst die Pfade aus, von denen du denkst, dass sie den meisten Ertrag abwerfen. Beim Mercedes wird es so sein, dass alle erst zum Kopierstift greifen, wenn das Konzept plötzlich nachhaltig Erfolg hat."

Kommt ein neuer Trick?
Wie viele der gezeigten Konzepte am Ende überleben werden lässt sich laut Newey heute noch nicht sagen. Dazu sind die Autos noch zu neu. Red Bull wird sich deshalb auch auf keine Experimente einlassen: "Wir werden unser Konzept weiterentwickeln, weil wir es am besten kennen. Doch ich traue mich nicht zu sagen, ob unser Weg der beste ist. Es ist gut möglich, dass ein anderer mit einer besseren Idee um die Ecke biegt."
Das Problem mit Prognosen ist, dass keiner das Ziel kennt. "Wir wissen alle noch nicht, wo wir bei der Entwicklung unserer eigenen Konzepte am Ende anstoßen werden. Vielleicht hat ein anderes ein viel größeres Entwicklungspotenzial, das heute noch hinterherfährt." Newey will auch nicht ausschließen, dass einer eine Lösung findet, die im Moment noch niemand auf dem Schirm hat. "Denken Sie an den Doppeldiffusor. Dieses Schlupfloch im Übergang vom Boden zur Stufe war immer da. Es hatte nur keiner entdeckt."