Früher waren rote Flagge eine Rarität und Ultima Ratio. Es gab sie nur wegen schwerer Unfälle oder schlechtem Wetter. Früher, das war die Zeit vor 2020. In den letzten drei Jahren dagegen haben wir eine Inflation von Rennabbrüchen und Safety-Car-Phasen erlebt. Zwölf Mal wurde ein Grand Prix seit 2020 unterbrochen, angehalten oder in mehreren Etappen gefahren. Safety-Car-Fahrer Bernd Mayländer hatte in 44 Grands Prix 63 Mal Dienst.
Nicht immer waren die Neutralisationen schlüssig. Bei so mancher hatte man das Gefühl, dass die Motivation darin lag, dem Rennen ein bisschen mehr Spannung zu geben. Weil neue Regeln den Showmastern mehr Instrumente in die Hand geben, die Rennstory zu beeinflussen. Früher fand ein Re-Start ausschließlich hinter dem Safety-Car statt. Seit drei Jahren darf der Rennleiter entscheiden, ob das Rennen stehend oder fliegend neu gestartet wird.
Ohne es beweisen zu können: Da gibt es sicher den unausgesprochenen Wunsch der Rechteinhaber, lieber aus dem Stand zu starten. Weil das den Nervenkitzel erhöht, eine festgefahrene Reihenfolge auflösen und für Überraschungen sorgen könnte. Gerade in einer Saison, in der ein Auto haushoch überlegen ist.
Wir werden das in Zukunft wahrscheinlich öfter erleben, weil mit Steve Nielsen jetzt ein Mann in der Rennleitung sitzt, der vorher für Liberty gearbeitet hat und der weiß, wie die neuen Herren der Formel 1 ticken.

Regeln müssen eingehalten werden
Alle Beteiligten sind sich einig, einen Grand Prix, wenn irgendwie möglich, nicht hinter dem Schrittmacherfahrzeug enden zu lassen. Das sehen auch die Zuschauer so. Erinnern Sie sich an das Pfeifkonzert in Monza 2022, als es ewig dauerte, bis der McLaren von Daniel Ricciardo geborgen wurde und der GP Italien in einem Autokorso mit Überholverbot zu Ende ging?
Mir ist ein Rennende unter Renntempo auch lieber. Und meinetwegen auch ein Re-Start, wenn es einen vernünftigen Grund dafür gibt. Mit einem unbegründeten Rennabbruch tut sich der Sport dagegen keinen Gefallen. Erst recht nicht, wenn er das Fundament der Regeln verlässt, nur um etwas spannend zu machen, was nicht spannend ist. Das riecht nach einer Fake-Show, wie beim Wrestling.
Jetzt also zum GP Australien letztes Wochenende. In welche Kategorie fällt das Chaos von Melbourne? Nach meinem Geschmack hätte sich die Rennleitung die erste rote Flagge sparen können. Den Kies, den Alexander Albon auf die Strecke geschaufelt hat, hätte man auch unter einem Safety-Car von der Strecke fegen können.

Mehr Spannung ohne Abbruch?
Wenn es in diesem Fall die Absicht war, Leben in das Rennen zu bringen, dann hat sich die Formel 1 da ein Eigentor geschossen. Mit George Russell und Carlos Sainz hatten zwei Fahrer aus der Spitzengruppe das Geschenk eines Safety-Car-Boxenstopps angenommen. Die wären ohne einen Neustart später wieder in Führung gegangen. Das hätte für Spannung gesorgt.
Die zweite rote Flagge geht in Ordnung. Kevin Magnussen hat wirklich einen Trümmerteppich auf dem Weg in die dritte Kurve auf der Strecke verteilt. Bis da alle Magnesiumsplitter und Karbonteile entfernt worden wären, wäre das Rennen wahrscheinlich hinter Mayländers Mercedes AMG GT ziemlich unspektakulär zu Ende gegangen.
Man könnte sagen, dass der Abbruch übervorsichtig war, doch die Rennleitung hatte bestimmt noch den Formel-2-Crash vom Vormittag im Hinterkopf, als Enzo Fittipaldi in einer Safety-Car-Phase mit Volldampf um ein Haar das Wrack von Roy Nissany am Streckenrand getroffen hätte.

Stehende Starts zu gefährlich?
Max Verstappen monierte, dass der Neustart weitere Unfälle provoziert hat. Das ist für mich kein Argument. Es liegt an den Fahrern, sich nicht gegenseitig ins Auto zu fahren. Auch bei einem stehenden Start. Sonst müsste man ja gleich das Überholen verbieten, weil das potenziell gefährlich ist.
Hätte man das Rennen nach der dritten roten Flagge ganz abbrechen oder ohne weiteren Abbruch hinter dem Safety-Car zu Ende bringen sollen? Beide Male Nein. Wenn die zweite rote Flagge Berechtigung hatte, dann hatte es die dritte erst recht. Da lagen noch mehr Trümmer auf der Bahn. Gleich den Deckel draufmachen, wäre auch nicht gegangen. Die Dreistunden-Frist für das Event war noch nicht abgelaufen.
Ganz Schlaue forderten, dass man die Formationsrunden vor den Re-Starts nicht mitzählen sollte. Dann hätte es zum Schluss noch mal einen Sprint über eine Runde im Renntempo gegeben. Auch das ist Unsinn. Erstens steht das so nicht im Reglement, und zweitens wäre dann einigen Autos das Benzin ausgegangen, weil die Formationsrunden zum Startplatz ja trotzdem gefahren werden müssen. In diesem Fall hätte sich die Formel 1 tatsächlich vorwerfen lassen müssen, der Show zuliebe die Regeln zu brechen.