Der Bann ist gebrochen. Im doppelten Sinne. Nach zuletzt fünf Pole Positions in Serie ist Max Verstappen geschlagen. Der Weltmeister verpasste den ersten Startplatz für den GP Ungarn 2023 um drei Tausendstel. Ausgerechnet sein großer Rivale aus der Formel-1-Saison 2021 entriss ihm die Pole Position und beendete so selbst eine Durststrecke von mehr als anderthalb Jahren.
Lewis Hamilton beschenkte sich mit seiner neunten Pole auf dem Hungaroring. Der ersten seit dem GP Saudi-Arabien am 4. Dezember 2021. Und der insgesamt 104. seiner Laufbahn. Für Mercedes war es zugleich die erste Pole seit einem Jahr. Zum letzten Mal startete ein Silberpfeil an gleicher Stelle vom besten Platz in den Grand Prix. Damals war es George Russell auf dem Hungaroring.

Mercedes mit umgedrehten Stärken
Der Rekordsieger der Formel 1 konnte sich fast nicht mehr an das Glücksgefühl einer Pole Position erinnern. "Ich habe es fast vergessen, wie es sich anfühlt, an einem Samstag der schnellste Fahrer zu sein", sagte Hamilton. "Es fühlt sich fast wie meine erste Pole Position überhaupt an. Wir hatten nicht erwartet, um sie kämpfen zu können. Umso schöner ist es, ganz oben zu stehen."
Diese Groundeffect-Autos geben Rätsel auf. Red Bull versteht sie mit Abstand am besten. Doch selbst die Dauersieger der Formel 1 seit 2022 bleiben nicht vor ihren Eigenarten verschont. Es ist praktisch unmöglich, sowohl bei niedrigen als auch hohen Geschwindigkeiten zu glänzen. Max Verstappen erkannte sein Auto nicht wieder. Er monierte mal Über-, mal Untersteuern. Allerdings ist der Red Bull selbst an einem gebrauchten Tag ein Spitzenauto im Vergleich mit der Konkurrenz, die größeren Formschwankungen unterliegt.
Mercedes hat die Tücken immer noch nicht verstanden. Und die Fragezeichen werden nicht weniger: Jetzt hat der W14 auch noch ganz andere Stärken als früher. Bis einschließlich Österreich war das schwarze Auto mit den Sternen schnell in schnellen Kurven und schwächelte dagegen speziell in langsamen. Seit dem GP England ist es anders herum. Dazwischen liegen ein neuer Frontflügel und geänderte Pirelli-Reifen, welche die Vorderachse im Verhältnis zur Hinterachse stärken.
W14 plötzlich berechenbar
Zum Glück für Mercedes gibt es auf dem Hungaroring nur drei schnellere Ecken. Das sind die Kurven 4, 10 und 11 die mit Geschwindigkeiten zwischen 220 und 250 km/h genommen werden. "Gerade in den Kurven 4 und 11 musste ich immer lupfen, während die anderen den Gasfuß scheinbar nicht anheben mussten", staunte Hamilton. In seiner letzten fliegenden Runde zog der siebenmalige Weltmeister durch. Er erhöhte das Risiko. Mit Erfolg. "Ich musste es einfach versuchen, und bin zum Glück auf der Strecke geblieben."
Es reichte, um Verstappen im letzten Augenblick vom Thron zu stoßen. "Gerade im letzten Abschnitt ist unser Auto stark." Dort schlängeln sich drei langsamere Kurven. Dort schießen am Mercedes die Reifentemperaturen hinten nicht durch die Decke. Beim Blick auf die einzelnen Sektor-Zeiten fällt auf, dass Verstappen im ersten und dritten Abschnitt der schnellste Fahrer war. Hamilton war im ersten und letzten Teil jeweils Zweitschnellster und im Mittelsektor die Nummer vier im Feld. Nur kam der achtmalige Ungarn-Sieger in seinem letzten Umlauf nahezu perfekt durch. Hamilton verfehlte seine Idealzeit um 39 Tausendstel. Verstappen indes segelte an seiner um 0,239 Sekunden vorbei.
Mercedes-Teamchef Toto Wolff schob die unerwartete Pole Position auf eine gute Fahrzeugbalance, die seinem Starfahrer das notwendige Vertrauen schenkte, zu attackieren. "Unsere größte Schwäche ist es nicht, dass es unserem Auto an Abtrieb mangelt. Das Problem ist die Unberechenbarkeit des Hecks. Heute hatte Lewis Vertrauen ins Auto. Das gab ihm Selbstvertrauen."

Aerodynamik auf Messers Schneide
Es spielen noch andere Faktoren hinein. Auf dem Hungaroring gerät die Performance auf Geraden in den Hintergrund. Es gibt nur eine lange Gerade. Viel Anpressdruck ist dagegen gefragt. Folglich spielen Luftwiderstand und aerodynamische Effizienz eine untergeordnete Rolle. Langsame und mittelschnelle Kurven sind in der Überzahl. Das erleichtert die Abstimmung. Neben dem Mix aus Kurven und Geraden beeinflussen auch die Temperaturen die Leistungsfähigkeit.
Und wenn die Ingenieure dann plötzlich das Wohlfühlfenster treffen, können Fahrer und Auto fliegen. Das hat viel mit der gewählten Bodenfreiheit zu tun. "Mit diesen Aerodynamik-Regeln spielt sich alles auf Messers Schneide ab. Triffst du Fenster und Setup, gewinnen die Fahrer das Vertrauen und können das Paket ausquetschen. Triffst du es nicht, sind diese Groundeffect-Autos nicht schön zu fahren", befindet Wolff.
Ein gewisses Muster zieht sich auch sonst durch die Mercedes-Saison. Die schwarzen Autos kommen freitags meist schleppend aus den Startlöchern. Da scheint es im Vorfeld bei den Simulationen am Grundverständnis zu hapern. Mercedes muss erst Kilometer sammeln, und mit Daten die heimischen Werkzeuge füttern. Erst dann scheint der Simulator richtig zu korrelieren. "Dieses Mal sahen wir am Freitag schlechter aus, weil wir die Softreifen im Regal gelassen haben", schildert Wolff. "Aber es stimmt, dass wir durch Simulatorarbeit über Nacht in den meisten Fällen samstags einen Sprung machen." So auch dieses Mal.
Russells frühes Aus
Welche Chancen rechnet sich Mercedes für das Rennen aus? Jedenfalls hat Hamilton nichts zu verlieren. Die Sehnsucht nach dem ersten Sieg seit Saudi-Arabien 2021 ist groß. Die Zuversicht allerdings eher gering. "Normalerweise haben wir ein gutes Rennauto. Aber Max und die McLaren waren auf den Longruns sehr schnell", sagt Hamilton. Sein Teamchef pflichtet ihm bei: "Speziell die Red Bull fahren im Longrun in einer eigenen Liga."
Zum Schluss noch ein Wort zu George Russell. Der Pole-Setter des Vorjahres stolperte bereits im ersten Qualifikations-Durchgang. Das Ergebnis war ein enttäuschender 18. Platz. Der Pilot selbst konnte wenig dafür. Das Timing für die schnellen Runden stimmte nicht. "Es sind im Q1 einfach so viele Autos auf der Strecke. Das sorgt für ein großes Durcheinander", sagt Wolff.
"Der Kodex zwischen den Fahrern, sich in der Outlap nicht zu überholen, scheint auch nicht mehr zu gelten. George wurde zwischen den Kurven 13 und 14 von drei Autos überholt. So kann das nichts werden. Das müssen aber wir auf unsere Kappe nehmen. Wir müssen ihm einfach die passende Lücke im Feld finden."