Bei der Vorstellung des Reglements für 2022 sprachen die ersten Schätzungen noch von fünf Sekunden langsameren Rundenzeiten. Ende letzten Jahres machten einige Technikchefs Hoffnung, dass die nächste Auto-Generation vielleicht doch besser sein könnte als ihr Ruf. Da war nur noch von drei Sekunden Unterschied zu den aktuellen Fahrzeugen die Rede. Die neuen Hochrechnungen sind jedoch eine Sensation. Das Delta fällt möglicherweise noch viel geringer aus.
Die Teams hüllen sich natürlich in Schweigen. Es gibt derzeit kaum geheimere Zahlen als die anhand von Windkanaltests und Simulationen kalkulierten Rundenzeiten für die 2022er Autos. Doch diesmal gibt es eine neutrale Instanz. Keiner kennt die Geheimnisse der neuen Fahrzeuggeneration besser als Pat Symonds, der im Auftrag des F1-Managements mit einer Gruppe von Ingenieuren das Konzept erfunden hat.

Es gibt nur ein Ziel: bessere Rennen
Anders als früher sind Prognosen nicht mehr nur graue Theorie. Symonds und seine Truppe haben das Auto aktiv im Windkanal und mit CFD-Simulation entwickelt. Sie wollten diesmal sicherstellen, dass ihr großes Ziel auch erfüllt wird. Da geht es nicht um Rundenzeiten, sondern um das Hinterherfahren im Pulk. Deshalb wurden die Technikchefs der Teams auch gebeten, ihre Erfahrungen mit den Erfindern des Konzepts zu teilen – und sie auch zu warnen, falls etwas aus dem Ruder läuft.
Die Transparenz wurde auch zum Selbstschutz gefordert. Damit es kein böses Erwachen gibt, wenn nächstes Jahr einer mit dem Supertrick auftaucht. "Die FIA kann eine Entwicklung verbieten, wenn sie das Gefühl hat, dass sie nicht dem Geist des Reglements entspricht", warnt Symonds. Das wäre vier Wochen vor Saisonbeginn aus doppelter Sicht fatal. Erstens müsste das entsprechende Team zurückrüsten, und zweitens belastet jede Kehrtwende das Budget. Nicht gut, wenn die Kosten gedeckelt sind.
Tatsächlich haben die FIA und die Techniker des F1-Managements schon einige Schlupflöcher gestopft, die sie entweder selbst entdeckt haben oder die von Teams an sie herangetragen wurden. Um was es sich genau handelt, bleibt natürlich geheim.
"Unsere größte Furcht ist, dass es einer schafft, die schlechte Luft, die im vorderen Teil des Autos erzeugt wird, außen um das Auto herumzuleiten. Das erzeugt dann die Probleme beim Hinterherfahren", erzählt Symonds. "Unser Plan sieht vor, die schlechte Luft innerhalb der Vorderräder durchzuführen und ab einem bestimmten Punkt nach oben umzuleiten. Dieser Idee muss sich alles unterwerfen."
Zu Saisonbeginn nur halbe Sekunde langsamer
Laut Symonds war es nie die Absicht, die Autos langsamer zu machen. Deshalb lassen die jüngsten Hochrechnungen auf einen viel geringeren Verlust hoffen, als einst prognostiziert. "Wir können uns vorstellen, dass die neuen Autos zu Saisonbeginn im Schnitt nur eine halbe Sekunde pro Runde langsamer sind als die aktuellen. Und bis Saisonende könnte Gleichstand herrschen. Ich sage 'könnte', weil wir noch nicht wissen, welches Entwicklungstempo dieses Reglement zulässt."
Die Zuversicht des Formel-1-Urgestein begründet sich auf dem Verhältnis von Abtrieb zu Luftwiderstand, das man anhand der Windkanalversuche mit den 2022er Modellen errechnet hat. Es liegt bei 4:1, also auf dem gleichen Niveau der aktuellen Fahrzeuggeneration. Vor allem in mittelschnellen bis schnellen Kurven werden höhere Geschwindigkeiten erwartet, weil der Anpressdruck beim Venturi-Effekt mit der Geschwindigkeit steigt. Am höchsten wird er demnach auf den Geraden sein, dort wo man ihn nicht braucht. Die Teams arbeiten deshalb fieberhaft daran, wie man da den Luftwiderstand reduzieren kann.
Die neuen Zahlen sind auch deshalb eine Überraschung, weil die Autos im nächsten Jahr um 38 Kilogramm schwerer werden und die Motoren wegen der E10-Umstellung möglicherweise etwas an Leistung verlieren werden. Das heißt im Umkehrschluss, dass die neuen Autos mehr Abtrieb erzeugen. Außerdem ist aus Kreisen der Teams zu hören, dass die neuen 18-Zoll-Reifen von Pirelli besser sind als gedacht. Auch von dieser Front kommt etwas Rundenzeit.

Versuche mit Schürzen und Staubsauger
Symonds verrät, dass man die künftigen Venturi-Autos bei den eigenen Testreihen auch testweise mit Plastikschürzen verkleidet hat, so wie sie zwischen 1978 und 1982 zum Teil erlaubt waren. Das Ergebnis waren echte Monster. Das Verhältnis von Abtrieb zu Luftwiderstand stieg auf 7:1. Die Autos wären damit wahrscheinlich um drei Sekunden pro Runden schneller geworden.
Muss man solche Konsequenzen nicht befürchten, wenn es einem gelingt, die Seitenkästen durch Erzeugung von künstlichen Wirbelschleppen zu versiegeln? Symonds glaubt nicht, dass die Architektur der 2022er Autos einen solchen Trick zulässt. Wenn doch, würde man es aber nicht verhindern, solange es Autos im Windschatten nicht stört. "Wir sorgen uns nicht um die Rundenzeiten, sondern nur darum, dass man mit diesen Autos besser im Zweikampf fahren kann."
Die Crew von Symonds hat noch einen weiteren interessanten Versuch in der CFD-Simulation durchgespielt. Die Ingenieure wollten herausfinden, wie schnell ein Auto wäre, wenn man zusätzlich zum Venturi-Effekt auch das Staubsauger-Prinzip zulassen würde – so wie beim Chaparral 2J von 1970 in der Can-Am oder dem Brabham BT46B von 1978 in der Formel 1. Dabei saugt ein Gebläse Luft unter dem Auto ab. Schürzen dichten diesen Raum nach außen ab.
Das besondere an dieser Idee ist, dass der Abtrieb nicht mehr abhängig von der Geschwindigkeit wäre. Man würde in langsamen Kurven genauso profitieren wie in schnellen. Symonds erzählt: "Wir haben eine Haarnadel simuliert, in der man heute mit 70 km/h durchfährt. Mit einem Staubsauger könnten Geschwindigkeiten von über 110 km/h erzielt werden."
Obwohl das Konzept der Zukunft völlig anders ist als das der Fahrzeug-Generation nach 1982, wird sich die Charakteristik der Aerodynamik gar nicht so stark ändern. "Das war von 2008 auf 2009 schlimmer als wir es für 2022 erwarten", sagt Symonds.
Eine überraschende Erfahrung hat man auch bei der Sensibilität der Aerodynamik auf eingeschlagene Vorderräder gemacht. "Anfangs war sie schlimmer als heute, weil beim Einlenken Luftwirbel erzeugt wurden, die die Strömung in den Kanälen unter den Seitenkästen gestört haben. Wir haben dafür aber eine Lösung gefunden. Die vorderen Bremshutzen sind jetzt genau dafür konstruiert, dass dieser Effekt nicht auftritt."