Die Zielflagge nach den Testfahrten von Bahrain war gerade gefallen, da begann bei den Teams das große Rechnen. Wer ist wo wie schnell? Wer hat geblufft, wer seine Karten aufgedeckt? Ist da noch Luft nach oben bei sich oder bei der Konkurrenz? Die Teams haben natürlich viel bessere Werkzeuge als wir. Sie kennen dank GPS-Analyse jede Geschwindigkeit an jeder Stelle der Strecke. Sie können daraus hochrechnen, wie schwer die Autos waren, mit welcher Power sie gefahren sind.
Wir müssen uns mit den drei Sektorzeiten und den vier Speed-Messungen begnügen, die das offizielle Zeitnahmesystem ermittelt. Da ist es schon schwerer, Zusammenhänge zu erstellen, aber nicht unmöglich. An erster Stelle gilt es herauszufinden, welcher Sektor welche Qualität des Autos am besten zeigt. In Bahrain besteht der erste Abschnitt aus zwei langen Geraden und zwei langsamen Kurven. Ein Indiz für Power. Der dritte Sektor ist ähnlich. Zwei Geraden, zwei mittelschnelle Kurven. Im längsten Segment in der Mitte der Runde ist mit sechs schnellen und zwei langsamen Kurven der Allrounder gefordert. Hier spielt allerdings auch das Gewicht des Autos eine Rolle.

Schumacher der Star in Sektor 2
Der Star in den letzten zwei Stunden der Testfahrten war der umgebaute Red Bull. Max Verstappen nahm dem zweitplatzierten Mick Schumacher im Haas eine halbe Sekunde ab, dem Ferrari von Charles Leclerc sieben Zehntel, Fernando Alonso im Alpine und dem neuen Mercedes-Star George Russell rund eine Sekunde. Das hört sich auf den ersten Blick nach einer deutlichen Überlegenheit an. Doch Red Bull hat nach Aussage von Sportchef Helmut Marko mit offenen Karten gespielt.
Der Honda-Motor war aufgedreht, und auch beim Tankinhalt soll nicht mehr groß Luft nach unten gewesen sein. Macht ja auch wenig Sinn, wenn das Auto ohnehin schon stark übergewichtig ist. Damit würde man bei einer schnellen Runde nur die Reifen zu stark strapazieren und sich am Ende selbst anlügen. Platz 4 beim Topspeed mit 313,7 km/h spricht für diese These. Verstappen dominierte auch die Sektoren 1 und 3 mit dem überproportionalen Anteil an Geraden.
Trotz der deutlichen Bestzeit musste sich der Weltmeister im Mittelsektor Mick Schumacher geschlagen geben. Selbst wenn der Haas weniger Sprit als der Red Bull an Bord gehabt hätte, ist das ein Kompliment an den US-Ferrari. Er hat auch knapp zehn Kilogramm Übergewicht. Schumachers erste Sektor-Bestzeit in der Formel 1 zeigt ganz klar: Dieser Haas ist in allen Disziplinen gut unterwegs. Platz 2 im Topspeed, stark in schnellen und langsamen Kurven. Das ist ein Auto, mit dem Magnussen und Schumacher in die Punkte fahren können. Wenn nicht der Defektteufel zuschlägt.

Ferrari überall bei der Musik
Ferrari blieb in Deckung. Für gedrosselte Motorleistung und ordentlich Benzin im Tank sprechen die Messwerte auf den Geraden. Charles Leclerc lag mit 308,2 km/h auf der Zielgerade am unteren Ende der Skala. Dass der Ferrari mehr kann, zeigte Carlos Sainz mit 314,0 km/h in der ersten Hälfte des Tages. Obwohl Ferrari tiefgestapelt hat, war Leclerc in allen Sektoren bei der Musik. Dritter in Sektor 1 und 2, Vierter im Schlussabschnitt.
Ferrari muss nicht selbst ausloten, was der Motor kann. Dafür hat man seine Kunden. Haas war die ganzen Tage schnell auf den Geraden. 316,2 km/h bedeuteten Platz 2 am letzten Tag. Dafür ließ es Alfa Sauber mit 310,4 km/h etwas ruhiger angehen. Die Schweizer sind autarker als der US-Rennstall. Das zeigt schon der Eigenbau von Getriebe und Hinterachse.
Bei Mercedes ist wohl Williams das neue Versuchskaninchen. Es macht den Eindruck, als würde der Traditionsrennstall langsam die Rolle des B-Teams von Aston Martin übernehmen. Dafür spricht nicht nur, dass Williams neuerdings das Getriebe beim großen Bruder in Brackley einkauft. Zwischen Mercedes und Aston Martin kam es letztes Jahr nach dem Klau von einigen Ingenieuren zu atmosphärischen Störungen. Williams beteiligte sich am letzten Tag nicht an der Zeitenjagd, zeigte aber mit 313,9 km/h, dass sich der Mercedes-Motor auf den Geraden nicht verstecken muss.

Mercedes in schnellen Kurven langsam
Mercedes ist in den ersten beiden Sektoren noch ganz gut bei der Musik, baut aber am Schluss der Runde ab. Da landete George Russell mit 23,381 Sekunden nur auf Platz 7. Drei Zehntel langsamer als Red Bull. Bei einem Topspeed von nur 308,6 km/h kein Wunder. Das war der vorletzte Platz. Ausgangs Kurve 12 wurde der Mercedes mit 261,6 km/h als langsamstes Auto gestoppt. Die Schwachstellen liegen auf den Geraden und in den schnellen Kurven. Ein klares Indiz dafür, dass Mercedes mit viel Bodenfreiheit fahren muss, um aus der Bouncing-Falle zu kommen. Das kostet Abtrieb.
Im Vergleich der Ferrari-Kunden muss man den Reifenfaktor mit einrechnen. Nach Aussage von Pirelli lag das Delta zwischen C3 und C4 je nach Auto zwischen sechs und acht Zehntel. Das hat Alfa-Sauber-Pilot Valtteri Bottas im Vergleich zu Mick Schumacher vor allem in den langsamen Kurven Zeit gekostet. Der Zeitunterschied in den beiden Sektoren mit einem hohen Anteil an Geraden beschränkt sich nur jeweils auf eine Zehntelsekunde. Im zweiten Sektor mit acht Kurven war Schumacher dank mehr Grip vom Reifen um 0,659 Sekunden schneller als Bottas.
Alpine am Limit oder nicht?
Alpine zeigte mit dem höchsten Topspeed und der dritthöchsten Geschwindigkeit in Kurve 12, dass der neue Renault-Motor mithalten kann und der A522 ein Auto mit wenig Luftwiderstand ist. Keiner stellt so wenig Frontflügelfläche in den Wind wie der französische Nationalrennwagen.
Trotzdem brach Alpine nach Fernando Alonso viertschnellster Runde nicht in Euphorie aus. Vielleicht, weil man das Gefühl hatte, dass eine Sekunde Abstand zur Spitze zu viel ist. Vielleicht, weil man merkt, dass die Schlacht um Platz 4 im Feld mit den starken Autos von Haas und Alfa-Sauber noch härter wird. Vielleicht, weil da nicht mehr viel Spielraum für Zeitverbesserung ist.
Nach Aussagen der Konkurrenz war Alpine ziemlich am Limit unterwegs. Das Team selbst beteuerte, dass der Motor noch nicht ganz aufgedreht und beim Tankinhalt nicht in Qualifikationstrim gefahren wurde. Tatsächlich hängte Alonso nach einer Abkühlrunde direkt noch einen weiteren Versuch dran, der neun Zehntel langsamer als seine persönliche Bestzeit war. Die meisten Konkurrenten bogen gleich nach ihrer schnellen Runde wieder in die Boxen ab.

Aston Martin überall zu langsam
Der zweite Sektor lässt ahnen, wo Alpine noch zulegen muss. Alonso verlor eine halbe Sekunde auf Schumacher und vier Zehntel auf Verstappen. Das spricht für ein Abtriebs-Defizit. Einsatzleiter Alan Permane beruhigt: "Bei uns kommen noch Upgrades."
McLaren ließ wegen Bremsproblemen nicht die Katze aus dem Sack. Auch Williams ließ bewusst nicht den Hammer fallen. Es gab zu viele andere Baustellen. Aston Martin fehlte in allen drei Sektoren massiv Zeit. Sechs Zehntel zu Beginn, eine Sekunde in der Mitte, fünf Zehntel am Ende.
Selbst wenn Sebastian Vettel in seiner schnellsten Runde einen Fehler einbaute und dabei sechs Zehntel einbüßte, erklärt das nicht den Zeitrückstand auf dem Rest der Runde. Trotzdem bleibt man im Team gelassen. "Wir haben bei den Testfahrten das erreicht, was wir wollten. Wir verstehen unser Auto." Ob das reicht?