Das Unternehmen Nio wurde erst im Jahr 2014 vom chinesischen Milliardär William Li gegründet. Um die junge Marke in China bekannt zu machen, setzte Nio neben einer Weltrekordfahrt des EP9 genannten Elektro-Supersportwagens auf der Nürburgring-Nordschleife auch bis heute auf die elektrische Formel E. Das Design und Teile der Entwicklung für Nio sind in München angesiedelt. Die bayerische Landeshauptstadt wurde vor allem aufgrund der Nähe zu kompetenten Mitarbeitern aus der Automobil- und Zuliefererindustrie ausgewählt.

Mit dem elektrischen SUV ES8 ist das erste Serienmodell von Nio in China bereits seit Juni 2018 auf dem Markt und zielt als Sechs- oder Siebensitzer vor allem auf wohlhabende Familien. Einzigartig ist die Möglichkeit, den 70 kWh großen Akku des ES8 in speziellen Wechselstationen auszutauschen. Außerdem hat Nio eine Flotte von Kleintransportern mit integrierter mobiler Ladestation aufgebaut und über ganz China verteilt. Sie können im Notfall die Akkus eines Nio-Fahrzeug wieder aufladen, egal, wo sich das Fahrzeug gerade befindet. So will Nio den ES-Kunden die Reichweitenangst nehmen. Herz des gesamten Angebots ist die Nio-App, mit der sich Ladeservice, Dienstleistungen und der Informationsaustauch mit einem persönlichen Betreuer bewerkstelligen lassen. Außerdem kann in der digitalen Nio-Welt mit einer eigenen Währung bezahlt werden. Klingt ganz durchdacht, aber ambitioniert. Knapp 10.000 ES8 hat Nio seit Juni 2018 verkauft, mit dem nächsten verfügbaren Fahrzeug sollte diese Zahl deutlich steigen.
Zwei Elektro-SUV auf einer Fertigungslinie

Denn der neue Nio ES6 zielt eine Preisstufe tiefer. Technisch ist er eng verwandt mit dem ES8, ist aber rund 20 Zentimeter kürzer. Herz beider Fahrzeuge ist ein Vollaluminium-Chassis, das im Nio-Werk in Hefei gefertigt wird. Das Werk selbst gehört dem chinesischen Auto-Riesen JAC, mit dem sich Nio früh verpartnert hat und der die Produktionskompetenz in die Ehe eingebracht hat. ES8 und ES6 werden in Hefei auf der gleichen Fertigungslinie gebaut. Auch beim ES6 sitzt der etwas über 500 Kilo schwere Akku zwischen den Achsen im Unterboden, was einen tiefen Fahrzeugschwerpunkt und eine entsprechend stabile Straßenlage gewährleistet. Das Aluminium-Chassis ist 20 bis 30 Prozent leichter als vergleichbare Stahlkonstruktionen. Das sorgt zwar nicht für größere Reichweiten, erlaubt aber eine weniger aufwändige Fahrwerkskonstruktion und verbessert die Crashsicherheit. Obwohl noch keine offiziellen Zahlen vorliegen, rechnet Nio nach eigenen Angaben mit einer Fünf-Sterne-Wertung.

Optisch folgt der ES6 der Linie, die der ES8 begonnen wurde. Die steile Front versucht sich mit schmalen LED-Scheinwerfer-Schlitzen, zwei Dreieck-Spangen und einem schmalen Kühlermaul von der Masse abzuheben, ohne allzu sehr aufzufallen. Wer es darauf anlegt, erkennt im ES6-Gesicht unter Umständen die eine oder andere Linie, die in ähnlicher Form auch dem Porsche Macan ins Blech gepresst wurde. Vor allem im Duo mit dem ES8 wird aber sehr schnell klar, dass sich die Chinesen große Mühe damit gegeben haben, beiden Elektro-SUV einen eigenständigen, aber gleichzeitig global einsatzfähigen Look zu verpassen. Obwohl der ES6 so etwas wie das neue Einstiegsmodell der Marke ist, gibt’s in Sachen Reichweiten-Versprechen, Ladefähigkeit und Konnektivität keinerlei Abstriche. Die Marke sortiert sich nicht ohne Grund im Premium-Segment ein

Der ES6-Innenraum ist ausschließlich mit Lederausstattung zu haben. Ab Werk sind ein üppig dimensioniertes Touch-Display auf der hohen Mittelkonsole sowie ein zweites Instrumenten-Display vor dem Multifunktionslenkrad verbaut. Der ES6 ist immer Online, die verbaute SIM-Karte greift auf monatlich auf ein kostenloses Datenvolumen von acht Gigabyte zurück. 4800 chinesische RMB (ca. 600 Euro) Aufpreis kostet Nios digitaler Assistent Nomi, der als bewegliches Digital-Emoji auf dem Armaturenträger sitzt und mit den Passagieren interagieren kann. Diverse USB-Schnittstellen, eine induktiv ladende Handy-Ablageschale und Sitzheizung gehören ebenfalls zum Serienumfang. Gegen Aufpreis gibt es außerdem Sportsitze, einen zum Liegesitz einstellbaren Beifahrersitz, ein intelligentes Duftsystem und Nappaleder, bzw. eine vegane Inneneinrichtung. Mit einer Gleichstrom- und einer Wechselstrom-Lademöglichkeit ist der ES6 für alle möglichen Ladesäulen vorbereitet.

Dennoch wird der "kleine" Nio, abzüglich der staatlichen Förderung, nur etwas mehr als die Hälfte des großen ES8 kosten. Für den sind vorab (ebenfalls abzüglich der staatlichen Förderung) und ohne die Batterie zu kaufen, mindestens 348.000 Yuan (rund 43.000 Euro) zu überweisen. Der ES6 ist ohne Batterie im Idealfall schon für 190.000 RMB (ca. 24.000 Euro) zu haben. Zum Vergleich: Ein VW Tiguan kostet aktuell nicht unter 29.000 Euro. Und weil der VW grundsätzlich nicht ohne Motor, bzw. Tank zu haben ist, der Fairness halber auch das Duell auf "Augenhöhe": Mit Akku kostet der ES6 (abzüglich Förderung) 290.000 RMB, das sind ungefähr 36.000 Euro. Möglich wird der niedrige Preis das durch eine flexiblere Auslegung von Antrieb und Fahrwerk. Anders als der ES8 gibt es den ES6 auch mit einem herkömmlichen Stahlfahrwerk, der ES8 kommt ausschließlich mit einem aufwändigen, von Continental zugelieferten Luftfahrwerk. Und statt der beiden 240 kW starken Motoren an Vorder- und Hinterachse kann der ES6 auch mit zwei 160 kW starken E-Motoren geordert werden.
In Verbindung mit dem "kleinen" 70 kWh-Akku sinkt die nominelle Reichweite des ES6 auf 410 Kilometer, den Sprint auf 100 km/h schafft der ES6 dann in 5,6 Sekunden. Nutzt man die Preisliste komplett aus, dann hat der ES6 vorne einen 160 kW-Motor und hinten eine 240 kW starke Maschine. Außerdem hängt dann ein neuer, 84 kWh starker Akku zwischen den Achsen, der nicht nur eine theoretische Reichweite von 510 Kilometern erlaubt, sondern den ES6 in 4,7 Sekunden auf 100 km/h stürmen lässt. Auch hier ein Vergleich: Der Porsche Macan Turbo gönnt sich für die gleiche Strecke eine Zehntelsekunde mehr. Wer "all in" spielt, ist dann aber auch ein ganzes Stück von den 190.00 RMB entfernt. Das volle Programm kostet, abzüglich staatlicher Förderung, knapp 49.000 Euro.

Akku: mieten oder kaufen?
Grundsätzlich gilt: Der Listenpreis lässt sich bei allen Nio-Modellen um 100.000 RMB (12.500 Euro) senken, wenn man den Akku nicht kauft, sondern least. Nachteil: knapp 200 Euro Batteriemiete pro Monat. Vorteil: Nur Fahrer mit Leasing-Akku können am Batterietausch-Programm teilnehmen. Außerdem hat man so die Chance auf Akku-Updates. Und genau diese Option gibt es mit dem Marktstart des ES6 im zweiten Quartal 2019. Dann wird auch der neue 84 kWh-Akku verfügbar. Und der passt (gegen einen entsprechenden Aufpreis der Mietgebühr), natürlich auch in den ES8. Laut Nio haben sich beim ES8 bislang weit über 70% der Kunden für den Mietakku entschieden.