"Elektrifizierung, Digitalisierung, Zirkularität": BMW-Chef Oliver Zipse wird nicht müde, die Entwicklungs-Schwerpunkte seiner Kernmarke immer wieder zu betonen. Für ihn scheint vor allem der letzte Punkt entscheidend für den zukünftigen Erfolg von Elektroautos zu sein. Deshalb enthüllten die Münchener auf der IAA 2023 mit der "Vision Neue Klasse" (siehe Video und Fotoshow) nicht nur Design und Technik kommender Elektro-BMWs, sondern auch ein komplett neues Verständnis im Produktions-Kreislauf von Rohstoffen, Materialien und Ressourcen.
Schon im Herbst 2024 beginnt die Vorproduktion der ersten BMW-Modelle auf der Elektro-Only-Plattform, deren Entwicklung die Vorstände als "größtes Investment der Firmengeschichte" bezeichnen. 2025 dürfen wir mit den ersten Serienmodellen auf der Plattform "Neue Klasse" rechnen. Erstes Modell: ein SUV im Format des X3. Folgen wird ein konventionelles Stufenheckmodell im Mittelklasse-Format der 3er-Limousine. Auf beide Modelle geben entsprechende Studien einen sehr konkreten Ausblick.
Ausblick auf das Serien-Design
Designchef Adrian van Hooydonk nutzte den Pariser Autosalon 2024, um auf die Optik der Serienautos vorauszublicken. Auf die Frage von auto motor und sport, ob es sich bei den bisherigen Studien um 90-Prozent-Concept-Cars handeln würde, antwortete der Niederländer: "Das würde ich so sagen. Als wir den i3 und den i8 gelauncht haben, waren die Endprodukte recht nah an den Concept Cars. Das kann man jetzt auch wieder erwarten." Die Formensprache werde clean, schlicht und präzise sein. Im Vergleich zu heute werden die Nieren wieder kleiner, wobei deren Größe vom Modell abhängen wird. Bedeutet: Ein 3er wird kleinere Nieren präsentieren als ein 7er.
Gleichzeitig kündigt van Hooydonk an, dass die Serienautos etwas kompakter sein und auf manche spektakuläre Studiendetails verzichten werden. "Aber ich finde sie deswegen nicht schlecht", so der Designchef. Obendrein kündigt er geringe optische Unterschiede zwischen BMWs künftigen Elektroautos und ihren Verbrenner-Pendants an. "Für uns als Marke BMW ist es wichtig, dass unsere Autos weltweit ein einheitliches Bild abgeben." Dennoch betont der Niederländer, dass die Neue Klasse über die gesamte BMW-Palette ausgerollt wird. "Wir werden sie in sehr vielen Formen und Konzepten sehen, von hoch bis flach, von der Toplimousine bis zur Kompaktklasse."
Im Innenraum ähneln sich die Neue-Klasse-Serienautos und die Konzeptstudien laut van Hooydonk ebenfalls stark. Zwar werden sie ein paar Knöpfe mehr aufweisen als die Concept Cars, doch das "Panorama Vision Display" wird in den Serienautos adaptiert. "Das ermöglicht uns, das Interieur drastisch aufzuräumen und das Thema Fahrerorientierung neu zu interpretieren", sagt das BMW-Urgestein.
Neue Formensprache mit historischen Bezügen
Um einschätzen zu können, wovon van Hooydonk genau spricht, lohnt ein Blick zurück auf die ursprünglichen Neue-Klasse-Studien. Bereits Anfang Januar 2023 zeigte BMW auf der Elektronikmesse CES mit dem iVision Dee (siehe zweite Hälfte der Fotoshow), wohin die Design-Reise geht. Die IAA-Studie "Vision Neue Klasse" verfeinerte Proportionen, Formen und Details. Das Design wirkt, "als hätten wir eine Modellgeneration übersprungen", stellte van Hooydonk damals fest. Dabei hat sein Team trotz der klaren Form die wichtigsten BMW-Merkmale geachtet: Nieren, Hofmeister-Knick und "Shark-Nose" sind deutlich zu identifizieren.
Dabei thront oberhalb der ausgestellten Radhäuser mit den 21-Zoll-Aerodynamik-Rädern und der kantigen Seitenlinie eine extrem luftige Glaskuppel mit großen Fensterflächen ("Greenhouse"). Selbst das Dach besteht nahezu komplett aus Glas. Der Blick hinein in den gelb ausgeschlagenen Innenraum ist nahezu von allen Perspektiven möglich. Zusammen mit der hellen Außenlackierung soll das eine freundliche, zukunftsorientierte Ausstrahlung erzeugen.
Demontagekonzept und Sekundär-Rohstoffe
Außen wie innen kommt bei der "Vision Neue Klasse" ein viel höherer Anteil an Sekundärrohstoffen und eine deutlich geringere Materialvielfalt als bei aktuellen Serienmodellen zum Einsatz. Das neu entstehende Werk im ungarischen Debrecen verzichtet komplett auf den Einsatz von fossilen Energieträgern. Ganz im Sinne von Zipses Zirkularität soll auch ein ausgefeiltes Demontagekonzept dazu beitragen, das Recycling zukünftiger Elektroautos zu erleichtern. An welchen Stellen dieses Konzept auf welche Weise zum Einsatz kommt, verrät BMW bisher noch nicht.
Ein leeres Marketing-Versprechen ist der nachhaltige Ansatz keinesfalls. Entwicklungsvorstand Frank Weber beschreibt die Entwicklung der neuen Elektro-Plattform so: "Mit der Neuen Klasse schreiben wir nicht nur das nächste Kapitel von BMW, sondern ein neues Buch. Deshalb ist klar: Die Neue Klasse wird alle Modellgenerationen durchdringen." BMW verspricht 6 neue Modelle in den ersten zwei Jahren nach dem Serienanlauf des Neue-Klasse-Elektro-SUV, das vermutlich wieder iX3 heißen wird.
260 kW Ladeleistung, 750 km Reichweite, top Effizienz
Mit dem i4 hat BMW schon jetzt ein fortschrittliches und sparsames Elektroauto auf dem Markt, das mit einer WLTP-Reichweite von 578 Kilometern langstreckentauglich ist. Durchschnittlich verbraucht beispielsweise ein i4 e-Drive40 zwischen 16,1 und 19,1 kWh je 100 Kilometer (WLTP) und kann am Schnelllader mit maximal 200 kW aufgeladen werden. Das vergleichbare Modell auf Basis der Neuen Klasse soll alle Werte um etwa ein Drittel verbessern. Die E-Maschinen lassen sich dank der modularen Plattform an beiden Achsen unterbringen, was alle Möglichkeiten in Bezug auf die angetriebenen Räder lässt. Es erscheint perspektivisch sogar möglich, dass je ein Motor pro Rad installiert werden kann, was ein echtes Torque Vectoring ermöglichen würde.

Auszug aus der IAA-Präsentation: Neue E-Motoren, 800-Volt-Technik und Rundzellen-Akkus sollen die Elektro-Performance deutlich verbessern.
Durch viele Maßnahmen wie die Gewichtsreduzierung um ein Viertel, der Batterie-Umstieg von prismatischen Zellen auf Rundzellen oder die weiterentwickelte e-Drive-Antriebstechnik der sechsten Generation soll die Gesamtfahrzeug-Effizienz um 25 Prozent verbessert werden. Trotz stattlicher Abmessungen im 3er-Format (4,70 Meter lang) könnten also durchschnittliche Verbrauchswerte von 12 kWh/100 km drin sein. Eine 30 Prozent höhere Ladeleistung würde im Fall eines i4 e-Drive40 bis zu 260 kW am Schnelllader bedeuten, während die Gesamtreichweite auf rund 750 Kilometer wächst. Und die soll extrem schnell wieder nachladbar sein: Mehr als die Ladeleistung steht hierfür das BMW-Versprechen, 300 Kilometer Reichweite binnen 10 Minuten "tanken" zu können. Im Vergleich zum gerade facegelifteten Tesla Model 3 – der weiterhin auf die bekannte Antriebs- und Batterietechnik setzt und in 15 Minuten bis zu 282 Kilometer schafft – gleicht der Techniksprung bei BMW einer Revolution. Selbst der Porsche Taycan sieht da mit 100 Kilometern in 5:30 Minuten eher alt aus.
Neuinterpretation der BMW-Doppelniere
Schon der iVision Dee deutete auf eine Neuinterpretation der BMW-Doppelniere hin. Das bei aktuellen Modellen eher vertikal ausgerichtete Design-Element, das technisch bei E-Autos überflüssig ist, wächst bei der Neue-Klasse-Limousine stark in die Breite und wird außen von den Scheinwerfern begrenzt. So ergibt sich an der Fahrzeugfront eine einheitliche Interaktionsfläche, auf der animierte Lichtinszenierungen möglich sind. Der Vorderwagen ist kürzer als bei den bisherigen BMW-Modellen, die A-Säule setzt früher an und steigt aus aerodynamischen Gründen sanfter an.
Technisch soll das erste Neue-Klasse-Modell laut Zipse ein Überflieger werden: "Wir werden die Benchmark sein, was Reichweite, Ladegeschwindigkeit und Preis angeht. Vergessen Sie den Preis nicht", sagte der Vorstandsvorsitzende bereits am Rande der CES 2023 zu Journalisten. BMW verspricht sich viel von den neuen Batterie-Rundzellen. Dabei handelt es sich um Lithium-Ionen-Akkus, die das Potenzial haben, Kathoden aus Lithium-Eisenphosphat (LFP) einzusetzen.
Riesen-HuD, aber kein iDrive mehr
Das mit dem iVision Dee gezeigte erweiterte Head-up-Display (HuD), das sich fast über die gesamte Breite der Windschutzscheibe erstreckt, hat Zipse auf der Elektronikmesse gesondert erwähnt. "Das ist mehr als eine Vision. Wir bringen diese Innovation in die 'Neue Klasse'", sagte er in Las Vegas im Rahmen seiner Keynote. "Schon 2025 wird diese völlig neue Technologie für unsere Kunden im Fahrzeug erlebbar sein." BMW nennt die Technik "Panoramic Vision."
Analoge Bedienelemente werden mit der Neuen Klasse komplett auf ein Minimum reduziert. Infotainment und Fahrzeugfunktionen werden über den zentralen Touchscreen, Multifunktionstasten am Lenkrad oder das interaktive Panoramic Vision gesteuert. Natürlich wird auch die Sprachbedienung ein zentraler Bestandteil des Konzepts. Einen iDrive-Controller wird es allerdings nicht mehr geben.
Neu definierte Software-Architektur
Mit der namentlich an die Modelle der Sechzigerjahre, die BMW damals aus einer tiefen Krise holten, angelehnten Plattform verlässt BMW seinen bisherigen Pfad, Technik-Architekturen für verschiedene Antriebsarten vorzubereiten. Im Gegensatz zu den aktuellen Baukästen UKL (Front- und Allradantrieb) und CLAR (Hinter- und Allradantrieb), die jeweils sowohl Verbrenner- als auch Hybrid- und reine Elektroantriebe aufnehmen können, ist die Neue Klasse ausschließlich als E-Antriebs-Plattform konzipiert.
Sie soll über eine vollständig neu definierte und hochintegrierte IT- und Software-Architektur verfügen. Für Fahrer und Insassen verspricht BMW damit ein neues und individuell abgestimmtes Fahrerlebnis, weil das System Daten aus Infotainment und elektronischem Bordnetz sowie der BMW Cloud zusammenführt.
Neue Klasse auch mit Wasserstoff?
Die Münchner Entwicklungsabteilung prüft obendrein, ob sich Wasserstofftechnik in Form eines Brennstoffzellenantriebs in die Plattform integrieren ließe. "Sie wird wasserstofftauglich sein, aber es gibt noch keine Entscheidung, das in der Neuen Klasse einzusetzen", sagte Zipse schon auf der CES 2023.