Es fallen heroische Worte, geschwängert von Stolz und Selbstbewusstsein. Fahnen wehen und Gruppenfotos vor historischer Kulisse entstehen. Herr Fu Qiang eröffnet eine Zeremonie, die den Ausgangspunkt eines strategischen Abenteuers würdigt. Der Ort: die zentralchinesische Stadt Xi’an, weltberühmt durch Ausgrabungen der Terrakotta-Armee des ersten chinesischen Kaisers Qin Shi Huang und die hier beginnende alte und neue Seidenstraße. Über sie flossen einst Handelsgüter nach Europa. Heute hängen die Ziele höher: Die komplett neu erschlossene Verbindung soll Chinas Wirtschaft nicht nur an Europa, sondern auch an Afrika und Amerika binden.
Herr Fu Qiang ist Gründer, Teilhaber und Präsident des chinesischen Start-ups Aiways, eines Unternehmens für Elektrofahrzeuge und AI- (Artificial Intelligence) gestützte Mobilitätslösungen. Ort und Worte in Xi’an sind mit Bedacht gewählt, um zwei SUV auf eine spektakuläre Reise zu schicken. Zwei Prototypen der ersten Stromer von Aiways. Begleitet von Entwicklungsingenieuren, einem Serviceteam sowie einem Gepäckwagen geht's ab nach Europa. In Märkte, die das Serienmodell Aiways U5 ab 2020 Schritt für Schritt erobern soll. Es ist die weltweit längste zusammenhänge Erprobungsfahrt eines elektrisch angetriebenen Fahrzeugs.
14.000 Kilometer Im E-Auto

Wir übernehmen das Lenkrad während der ersten Etappen durch China, sammeln Fahreindrücke und lernen eine andere Zeitrechnung kennen. Die Ankunft des kleinen Konvois in Frankfurt wird zur Eröffnung der internationalen Autoausstellung IAA erwartet. Doch die rund 14.000 Kilometer lange Reise ist nicht nur Härtetest für den U5, sondern soll die grundsätzliche Alltagstauglichkeit Strom betriebener Autos untermauern. Denn Aiways entwickelt E- und AI-Technologie nicht nur für sich selbst. Vielmehr sind seine Gründer getrieben von der Idee, den weltweiten Wandel der individuellen Mobilität zu Elektromobilität durch eine Vielzahl von peripheren Lösungen maßgeblich mit zu gestalten. Etwa das problemlose Nachladen der Stromspeicher auf Supermarkt-Parkplätzen durch CARL, der von Aiways entwickelten vollautomatischen Laderoboter.
Das Potenzial ist vorhanden: Bei Aiways haben gestandene Automobilexperten das Sagen. Das Management bilden erfahrenen Experten von westlichen Automobilherstellern. Aiways-Präsident Fu Qiang leitete die China-Geschäfte von Volvo, Beijing Benz, SAIC Skoda und FAW Volkswagen. Sein CEO Gu Feng führte die Finanzgeschäfte von SAIC GM, der Aiways Entwicklungschef Wang Dongchen kommt von FAW Volkswagen und zog zahlreiche Ingenieure nach, die teilweise sehr gut deutsch sprechen. Sie alle setzen die gleichen Qualitätsmassstäbe wie ihre früheren Arbeitgeber Volkswagen, Volvo, Ford usw. an.
Aiways U5 hat mehr Platz als ein VW Tiguan Allspace
Es regnet in Strömen, als wir das Antriebsmanagement des U5 per Knopfdruck hochfahren. Wir machen's uns bequem auf Sitzen mit gutem Seitenhalt, genießen mehr Bewegungsfreiheit als in der Langversion des Volkswagen Tiguan. Passagiere im Fond können dank 279 mm Radstand entspannt mit übereinandergeschlagenen Beinen reisen. Dabei ist der Mitteklasse-SUV mit 4.680 x 1.865 mm (Länge x Breite) zwei Zentimeter kürzer als der VW-Bestseller. Wir blicken auf tanzende Symbole im zweifach gewinkeltem Cockpit-Display und zentralen 12,3-Zoll-TFT-Bildschirm des Infotainment-Systems. Das Ambiente wirkt völlig unaufgeregt: Keine Schaltergruppen verteilt über den Armaturenträger, keine Drehknöpfe. Das U5 Interieur strahlt wohltuende Ruhe aus.
Die ersten Kilometer im Stadtverkehr gleichen einer Floßfahrt. Es geht gemächlich dahin und ausser Spritzwasser, das Unterboden und Radhäuser massiert, sind keine Fahrgeräusche vernehmbar. Wir spielen mit dem Fahrpedal, um die Kräfte beim Beschleunigen und Verzögern durch Rekuperation zu spüren. Die Batterie ist zu 94 Prozent geladen, und der Reichweiten-Rechner nennt 471 Kilometer. Die chinesischen Entwicklungsingenieure spielen auf Smartphones, was wir als „keine besonderen Vorkommnisse“ deuten.
Theoretische Reichweite: gut 500 Kilometer

Mit Xi'an im Rücken feiert der U5 seine Jungfernfahrt auf der Seidenstrasse. Es geht dreispurig gen Westen, wir rollen mit 100 km/h dahin. Zu hören sind auf trockenem Asphalt die Abrollgeräusche der Reifen und unter Last ein leichtes Singen des Sychronmotors. In den nächsten Tagen werde auch schneller gefahren, verspricht der Erprobungsleiter. Vorerst jedoch möchte er lernen, wie weit das im Unterboden Aufprall geschützt installierte 65-kWh-Batteriepaket den U5 trägt, wenn sich der Fahrer mit dem „Sparfuß“ begnügt. Die nominelle Reichweite sollte 506 Kilometer betragen, heißt es. Im Praxisbetrieb mit vier Reisenden und leichtem Reisegepäck allerdings wird sie nicht erreicht.
Nach rund zwei Stunden rollen wir in Baoji ein. Die Mittagpause ist Chinesen ein Sakrileg. Wir nutzen sie auch zum Nachladen der Stromspeicher, was sich auf den Etappen im Heimatland als nicht unproblematisch entpuppt. Da die Fahrzeuge nach europäische Normen spezifiziert sind, lassen sie sich nicht einfach an öffentlichen Säulen nachladen. Die Kommunikation zwischen Ladestation und U5-Batteriemanagement funktioniert nicht. Der Ladevorgang wird nicht freigegeben und die Aiways Techniker beraten sich. Dann schliessen sie die mitgeführte Wallbox direkt an eine Transformatorenanlage, legen ein paar elektronische Hürden lahm und siehe da: Mit 20 kW Ladestrom steigt die Batteriekapazität in einer Stunde von 47 auf 57 Prozent und die Reichweite von 235 auf 285 Kilometer. Der Sieg chinesischer Improvisationsgabe zaubert auch dem Amtschef des örtlichen Elektizitätswesens ein Lächeln aufs Gesicht.
Aiways U5 soll 2020 nach Europa – für 30.000 Euro
Die ersten Serienfahrzeuge Aiways U5 werden in den nächsten Monaten in China und ab Anfang 2020 auf europäische Straßen fahren. Entwickelt im eigenen Technikzentrum in Jiading nahe Shanghai und gebaut in der modernsten 4.0 Automobilfertigungsstätte der Welt, in Shangrao. Sie gehört ebenfalls zu Aiways, wie auch eine Batteriefabrik in Changshu. Und nicht zu vergessen die deutsche Dependance Gumpert Aiways, ein Labor für Vorausentwicklungen nahe Ingolstadt, wo der elektrisch betriebene Supersportwagen GR Nathalie heranwächst.
Als erster chinesischer Anbieter von Elektromobilen in der Produktqualität westlicher EVs, gibt Aiways dem U5 eine umfangreiche Sicherheits- und Komfortausstattung sowie ein einzigartiges Serviceumfeld zum konkurrenzlos günstige Preis von 30.000 Euro mit auf den Weg. Das Versprechen Fu Qiangs klingt wie der Wunsch nach Demokratisierung des Elektromobilmarktes: „Wir machen Elektromobilität bezahlbar!“ Zum Vergleich: Der Ende des Jahres verfügbare Volkswagen ID.3, der erste Stromer aus Wolfsburg im Golf-Format, wird mit vergleichbaren Ausstattungsmerkmalen deutlich mehr kosten, ohne die Variabilität des U5 SUV zu besitzen.
Flotter Antrieb, straffes Fahrwerk

In Richtung Dingxi schlängelt sich die Autobahn G30 durch zunehmend bergiges Land. Wir passieren endlose Tunnel, queren auf imposanten Brücken tiefe Täler, es geht stetig bergauf. In Sichtweite taucht immer wieder die mehrspurige Bahnstrecke auf. Auch sie verbindet als Teil der Seidenstrasse Ost mit West. Den Anstieg auf rund 2.000 Meter über Meerespiegel nimmt der nur 1.730 Kilo wiegende U5 leichtfüssig. Dank 145 kW/197 PS sowie einem Drehmoment von 350 Nm hängt er gut am Fahrpedal. Seine elektrische Lenkung arbeitet präzise. Einzig der Abrollkomfort auf 19-Zoll-Rädern passt nicht zum Gesamtkonzept des U5. Sein Fahrwerk ist zu straff abgestimmt. Die Techniker stimmen zu. Mehr Komfort fürs Serienfahrzeug sei bereits beschlossen.
Wie jedes andere Fahrzeug, verlangt auch der U5 auf Steigstrecken mehr Energie. Zur Anpassung des Stromverbrauchs, fahren wir nicht schneller als 90 km/h, was uns angesichts überladener Lkw und zahlreicher untermotorisierter ICE-Autos (internal combustion engine) zur Dauernutzung der Überholspur zwingt. Das Tempo ist angemessen, lädt zum Sightseeing ein und schließlich zur nachmittäglichen Rast mit 90-minütigem Laden der Batterie. Beim chinesischen Abendessen in fröhlicher Runde gibt's zufriedene Gesichter: 560 Tageskilometer entspannter Fahrt belegen schon am ersten Tag der langen Tour die Reisetauglichkeit des U5.
Klimatisierte Batterie, crashsicher verpackt
Dass auf späteren Reiseabschnitten über unbefestigte Strassen größere Herausforderungen zu erwarten sind, sieht das Entwicklungsteam gelassen. Im Aluminium-Unterboden des U5 liegen die Lithium-Ionen-Zellen des chinesischen Herstellers CATL, die Aiways zu einer klimatisierten patentierten Sandwich-Bauweise fügt, Aufprall geschützt zwischen den Achsen. Die Batteriemodule sind von Isolationsschichten und Puffern getrennt, um Kurzschlüsse selbst bei Deformationen durch Außenwirkung auszuschliessen. Zwischen Unterboden und Modulen liegt eine 15 mm starke Crash-Zone. Und tatsächlich können dem System selbst moderate Wasserdurchfahrten nichts anhaben, wie wir an Folgetagen lernen.
Während Entwicklungsingenieure von Aiways diese Erprobungsfahrt als Härtetest ihrer technischen Systeme sowie des Gesamtfahrzeugs erleben, lernen wir beim Reisen mit dem Elektrofahrzeug eine andere Zeitrechnung kennen. Dazu zählt nicht nur der in Asien ohnehin gepflegte entschleunigende Umgang mit verfügbarer Zeit, sondern auch die Erziehung zum disziplinierten Umgang mit dem Gaspedal – sorry, mit dem Fahrpedal. Denn rechtzeitig den Fuss zu lupfen spart nicht nur Energie, sondern lädt durch Rekuperation die Stromspeicher nach. Das gilt auch für den Umgang mit der Bremse. Wer vorausschauend fährt, wird die mechanische Bremse nie nutzen. Das von Bosch stammende iBoost-System im U5 nutzt jede Verzögerungsanforderung zur optimalen Energierückgewinnung – und passt sich dank adaptiver Steuerung sogar dem Fahrstil des Fahrers an.
Methanol-Brennstoffzelle als Range-Extender

So wird die längste Erprobungsfahrt eines Elektromobils auch zum Lehrstück für den persönlichen Umgang mit Stromern. Es wird maßgeblich getrieben vom staatlich gestützten Wunsch, neue chinesische Mobilitätsanbieter mögen sich zu Innovationstreibern entwickeln. In Folge werden wir uns mit neuen Markennamen aus China vertraut machen müssen. Darüber hinaus wird die neue Zeit unsere Gewohnheiten verändern und zumindest unsere individuellen Bewegungsmuster nach Ladezyklen ausrichten.
Wer das nicht möchte, muss warten! Aiways hat angekündigt, eine Methanol betriebene Brennstoffzelle als Reichweitenverlängerer (Range Extender) zu entwickeln, wie sie auch Aiways-Partner Roland Gumpert in seinem Sportcoupé Nathalie zeigte. Dem U5 sollte eine solche Brennstoffzelle weit mehr als tausend Kilometer Reichweite ohne Ladestopp bescheren. Die 14.000 Kilometer lange Strecke von Xi'an, über Russland, das Baltikum, Skandinavien, Dänemark, Benelux, Frankreich, die Schweiz bis Frankfurt würde dann auf 14 Tage Fahrzeit schrumpfen. Wir wären gern wieder dabei!