Die weit über 100 Weltmeistertitel im Motorradsport wollen wir mal ganz beiseite lassen: Allein das halbe Dutzend Siege bei der Rallye Dakar muss dazu geführt haben, dass sich das Menschenbild im Allgemeinen und das vom sportlich orientierten im Besonderen bei KTM völlig anders zusammensetzt als etwa bei einem traditionellen Fahrzeughersteller wie - sagen wir - Toyota.
Radikale Reduktion - KTM X-Bow ohne ABS, ESP, Airbag und Bremskraftverstärker
Ob im österreichischen Mattighofen, beziehungsweise Graz, wohl je einer von der aktuellen Bedrohung gehört hat, die von verrutschenden Fußmatten und klemmenden Gaspedalen ausgehen kann? Okay, Fußmatten gehören im KTM X-Bow nicht zum Ausstattungsumfang. Aber hat sich dort schon mal einer Gedanken darüber gemacht, welche physischen und psychischen Schäden es bei Autofahrern verursachen kann, wenn ihnen gängige Schutzeinrichtungen vorenthalten werden, sie zum Beispiel ohne Windschutzscheibe und Seitenfenster den Unbillen von Wind und Wetter ausgesetzt sind?
Wie wollen die KTM-Verantwortlichen dagegenhalten, wenn ihnen wegen eklatanter Missachtung des Status Quo unterlassene Hilfeleistung unterstellt wird? Schließlich ist das automobile Erstlingswerk, das KTM mit Unterstützung des italienischen Rennchassis-Spezialisten Dallara und dem Salzburger Designer Gerald Kiska auf die Räder gestellt hat, nicht nur ohne Traktionskontrolle und ESP unterwegs - auch ABS ist nicht an Bord. Von einer Servounterstützung der Lenkung oder einer Bremskraftverstärkung mal ganz zu schweigen.
Will man die von elektronischen Fahrsicherheitssystemen ver- und von Eigenverantwortung zunehmend entkoppelte Kundschaft etwa ganz allein und ungeschützt den furchteinflößenden Wagnissen landgestützter Mobilität aussetzen? Und das auch noch ohne Zukunftsperspektiven etwa in Form eines Hybrid- und/oder Elektronantriebs? Ja - man will.
Klare Aussage: Nur Männer fahren den KTM X-Bow
Gemäß dem traditionellen KTM-Motto "Ready to race" handeln die auf dem Automobilsektor völlig unbelasteten Österreicher nämlich nach folgender, in der Motorradszene gängigen Maxime: "Gewicht vermindert Leistung und beeinträchtigt das Fahrerlebnis." Folgerichtig fehlt im KTM X-Bow auch alles, was der Bequemlichkeit dient. Die radikale Konstruktion ohne Dach, der Verzicht auf die Windschutzscheibe und das Weglassen von Heizungs- und Klimaanlage sowie Unterhaltungs- und Steuerelektronik sollen die Konzentration auf ein Fahrerlebnis ermöglichen, das sonst nur auf einem Motorrad zu finden ist. Nichts für Weicheier also.
Und schon gar nichts für Menschen, die auf Imagetransfers hoffen oder von Standesdünkel getrieben sind. Laut KTM-Marketing handelt es sich beim typischen KTM X-Bow-Kunden fast ausschließlich um Männer, zwischen 35 und 50 Jahre alt, die über ein gutes Einkommen verfügen, ein hohes Interesse am Motorsport haben und bereits über mehrere Fahrzeuge verfügen. Ja, wenn das so ist ... Doch selbst dieser auserwählte Kundenkreis hat vor dem Einstieg in den X-Bow gewisse Hürden zu nehmen: Zuerst einmal muss der Käufer mindestens 24 Jahre alt sein. Und um sicherzustellen, dass er mit einem so puristischen Hardcore-Sportler auch verantwortungsbewusst umgehen kann, ist ein Fahrtraining im Rahmen des sogenannten "Drive Orange"-Programms von KTM angesagt.
Dass dieses mutige Konzept in eine Zeit fällt, die von enger werdenden finanziellen Spielräumen geprägt wird, ist ein Umstand, der dem forschen Österreicher freilich schwer zu schaffen macht. Von der ursprünglich geplanten Jahresproduktion von bis zu 2.000 Exemplaren hat man sich längst verabschiedet - nicht ohne den festen Willen zu artikulieren, an diesem alternativen Sportwagen mit allem Nachdruck festzuhalten.
An der Zukunftsfähigkeit des Konzepts zu zweifeln hieße auch, einen der künftigwichtigsten Stellhebel leichtfertig ungenutzt zu lassen. Schließlich wird es das Thema Leichtbau sein, das neben den derzeit im Fokus stehenden alternativen Antriebskonzepten die automobile Zukunft beherrscht. Diesbezüglich so weit in Vorlage gegangen zu sein, und sei es nur, um der reinen, unverfälschten Sportlichkeit dienlich zu sein, ist ein Privileg, das KTM als Neuling in der Automobilszene ehrenvoll für sich in Anspruch nehmen kann.
Der KTM X-Bow ein perfektes Trainings- und Spaßgerät
Der Respekt gilt mithin auch denjenigen, die sich die Mühe und mitunter auch den Stress machen, mit Helm, Handschuhen und Windjacke bewehrt den witterungstechnischen Unwägbarkeiten trotzig und selbstbewusst entgegenzutreten - oder besser gesagt: entgegenzurasen. Denn sobald die unangenehmen Aspekte - siehe Kaufpreis - in Vergessenheit geraten sind, und der Umstand in den Hintergrund gerückt ist, dass auf die Mitnahme von Gepäck verzichtet werden muss, weil es keinen Kofferraum gibt, macht sich nämlich die Gewissheit breit, der aufkommenden Fahrfreude ein extrem breites Spektrum an Entfaltungsmöglichkeiten bieten zu können.
Bei aller ergonomischen Fürsorge, die im Cockpit bei näherer Betrachtung zu erkennen ist: Der enge Schulterschluss mit dem KTM X-Bow stellt sich nicht sofort, sondern erst nach etwas längerer Eingewöhnungszeit ein. Der Umstieg von einem aktuellen, komfortbetonteren Sportwagen in die Dach- und Frontscheibenfreie, dafür mit starken Überrollbügeln bewehrten und mit "schwebenden" Karosserieteilen verkleideten Niederungen des KTM X-Bow ist ein Schritt in eine völlig andere Welt. Eine, die ganz neue Ansichten erlaubt und zugleich zu einer ungewohnten Betrachtungsweise zwingt.
Dass der Fahrer in diesem zerklüftet wirkenden, jedoch von erkennbarer Logik bestimmten Umfeld vollständig in den Mittelpunkt rückt, ist weniger seiner tiefen Sitzposition im Zentrum zwischen den Achsen geschuldet, als vielmehr seiner Rolle als unumschränkter Bestimmer der Szenerie. Hier hilft ihm keiner, wenn das Heck auszubrechen droht. Nichts und niemand greift regulierend ein, wenn der Gaststoß zu abrupt oder der Bremsimpuls zu stark war. Wer die Größe hat, eigene Fehler eingestehen zu können und bereit ist, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, wird im KTM X-Bow ein perfektes Trainings- und Spaßgerät entdecken - sofern er den Aufwand nicht scheut, zumindest die ersten Erkundungstouren vornehmlich auf abgeschlossenem Kurs zu unternehmen. Die fahrdynamischen Talente sind nämlich speziell mit Sportreifen auf einem Niveau angesiedelt, das im Umfeld der öffentlichen Straße von den anderen Verkehrsteilnehmern als bösartiger Affront angesehen werden würde - von der Exekutive erst recht.
Ein Roadster mit gerade mal 858 Kilogramm
Die Querbeschleunigungswerte von annähernd 1,5 g - so, wie dies im Supertest in Hockenheim und auf der Nordschleife durchweg realisiert wurde, sind immerhin so ausgeprägt, dass sie als echtes Nackenmuskeltraining durchgehen können. Und auch die Haltekräfte am Lenkrad sind wegen der fehlenden Servounterstützung dergestalt, dass sich ein Hanteltraining völlig erübrigt, wenn nur das tägliche KTM X-Box-Fahren nicht vernachlässigt wird.
Die Reaktionsschnelligkeit des Zweisitzers auf die am Lenkrad eingeleiteten Richtungswechsel könnte all jene leicht überfordern, die die harte, unmittelbare Fahrdynamik, wie sie ein Formelrennwagen darstellen kann, noch nicht am eigenen Leib erfahren haben. Das Einlenken vollzieht sich verzögerungsfrei. Ebenso direkt und ungefiltert zeigt der vollgetankt nur 858 Kilogramm schwere Roadster auch, was er zu akzeptieren bereit ist - und was nicht. Die Grenze ist extrem hoch angesiedelt, aber die Hinweise auf die Annäherung an dieselbe sind kurz, knapp und unmissverständlich. So, wie der Zustand des Untersteuerns aus dem Fahrprogramm des KTM-Renners gestrichen ist, so konsequent geht ihm auch die Verbindlichkeit ab, mit der andere, gemäßigtere Vertreter seines Fachs ihr fahrdynamisches Limit ankündigen.
In die Situation eines möglichen Konterschwungs sollte man sich am besten erst gar nicht hineinmanövrieren, denn dieser ist aufgrund der extrem direkten und harten Reaktionen des KTM X-Bow nur schwer zu parieren. Wer es allerdings schafft, ein am Limit leicht drängendes Heck unter Kontrolle zu halten - oder besser: strategisch einzusetzen, wird mit atemberaubenden Kurventempi belohnt. Auch dem Copiloten wird das Grinsen dabei nicht mehr aus dem Gesicht weichen, allerdings nur, sofern auch er mit einem gut sitzenden Vollvisierhelm ausgerüstet ist.
Wer diesbezüglich Kompromisse eingeht, dem wird bei hohem Tempo der klare Blick flugs verloren gehen, weil der Luftstrom und die sich über der Front entwickelnden Turbulenzen mit Macht am Kopf vergreifen. Ansonsten ist die Besatzung inmitten des unverkleideten, um nicht zu sagen nackten Karbonmonocoques solide, unverrückbar und - mit Einschränkungen - auch langstreckentauglich untergebracht.
Der X-Bow ist mit einem Leistungsgewicht von 3,6 Kilogramm pro PS unterwegs
Dank der mechanisch justierbaren Pedalerie und des in beiden Ebenen verstellbaren Multifunktionslenkrads ist ein individuelles Arrangement mit wenigen Handgriffen getroffen. Die Befürchtung, im Regen durch das sich in der Cockpit-Wanne möglicherweise sammelnde Wasser aufgeweicht zu werden, stellt sich dank der gut funktionierenden Drainage als unbegründet heraus. Sollten die wenigen über die Reling kommenden Regenspritzer an der Besatzung ebenso abperlen wie am "Interieur" des KTM X-Box, dann steht einer zufriedenstellenden Allianz eigentlich nichts mehr im Wege.
Die Erkenntnis, wonach der Offenfahr-Genuss bei Nässe bei weitem nicht mehr an die bei Sonnenschein und trockener Fahrbahn erlebte Qualität heranreicht, ist zwar an sich nicht neu, in diesem extrem qualifizierten Umfeld aber von ungleich größerer Bedeutung. Das in Kurven stark eingeschränkte Gripniveau der Sportreifen ist dabei weniger nervenaufreibend - weil leichter kontrollierbar -, als das an einen Drahtseilakt erinnernde Bremsverhalten bei Nässe. Ohne ABS-Unterstützung ist eine extrem gefühlvolle Dosierung am Pedal gefragt, wenn eine angemessene Verzögerung ohne blockierende Vorderräder realisiert werden soll.
Solche negativen Konsequenzen aus der konzeptionellen Zuspitzung kann nur verschmerzen, wer auch den wahrhaft begeisternden Aspekten gegenüber empfänglich ist, die sich dafür auf der anderen Seite auftun: Die Möglichkeit etwa, Rundenzeiten auf dem Kleinen Kurs in Hockenheim realisieren zu können, die auf dem Niveau des aktuellen Porsche 911 GT3 liegen. Und das als Vertreter einer Leistungsklasse, die mit sportlichen Höchstleistungen gemeinhin nicht mehr unbedingt in Verbindung gebracht wird. Des Rätsels Lösung: Trotz seiner vergleichsweise bescheiden klingenden Leistungsangabe von 240 PS tritt der KTM X-Bow im Test dank seines Minimalgewichts mit einem Leistungsgewicht von austrainierten 3,6 Kilogramm pro PS an.
Für Druck sorgt der 240 PS-TFSI von Audi
Der geschliffen im Rücken der Besatzung arbeitende Zweiliter-TFSI-Turbo aus dem Audi-Regal setzt sich grundsätzlich unauffällig, wenngleich sehr wirkungsvoll in Szene. Ein akustisches Feuerwerk ist von ihm freilich nicht zu erwarten. Hingegen wartet er mit einem Sprint- und Durchzugsvermögen auf, das den Gegnern auf der Strecke höchsten Respekt abfordert - sofern die Geraden kurz und die Biegungen scharf genug sind. Auf langen Geraden wie beispielsweise der Döttinger Höhe kämpft der deutlich mehr auf Abtrieb denn auf Windschlüpfigkeit getrimmte österreichische Nonkonformist nämlich mit stumpfen Waffen.
Seine Vmax - knapp 220 km/h -, ist dort zwar relativ schnell erreicht. Aber da der Weg bis zur nächsten Kurve lang ist und er leistungsmäßig nichts zuzusetzen hat, schmilzt der bis zum Galgenkopf herausgefahrene Vorsprung wie das sprichwörtliche Eis in der glühenden Mittagssonne. Die langen Geraden haben also durchaus etwas Kommunikatives: Man trifft sich am Ende immer wieder, winkt sich gegenseitig zu und sonnt sich im Wohlwollen, das einem im KTM X-Bow immer und überall entgegenfliegt.
KTM X-Bow 2.0 | |
Grundpreis | 54.562 € |
Außenmaße | 3738 x 1900 x 1205 mm |
Hubraum / Motor | 1984 cm³ / 4-Zylinder |
Leistung | 177 kW / 240 PS bei 5500 U/min |
Höchstgeschwindigkeit | 220 km/h |
0-100 km/h | 4,7 s |
Verbrauch | 7,8 l/100 km |